Zwischenmenschliche Spannung
Der Choreograf Mauro Bigonzetti
Er steht wie kein zweiter Name für den modernen Tanz aus Italien: Mauro Bigonzetti war 30 Jahre lang dem Aterballetto aus Reggio Emilia verbunden, Italiens bester und bekanntester Avantgarde-Kompanie – der einzigen auf internationalem Niveau. Dorthin gebracht haben sie vor allem die jahrzehntelang unermüdlich fließenden, oft sehr unterschiedlichen Werke Bigonzettis. Ihn selbst katapultierte dieser Erfolg zu den besten Ballettkompanien Europas und der USA, auch an fast alle großen deutschen Häuser.
Als junger Tänzer war Bigonzetti am Teatro dell’Opera di Roma engagiert, in seiner Heimatstadt Rom hatte er auch studiert. 1982 ging er zum Aterballetto, wo seine ersten Choreografien entstanden. Er leitete die Kompanie von 1997 bis 2007 und blieb danach ihr Chefchoreograf. 2016 war er für ein Jahr Direktor des Balletts an der Mailänder Scala. Heute arbeitet der 63-Jährige freischaffend, aus den Einaktern und Miniaturen sind abendfüllende Werke geworden, die nicht immer eine Handlung haben müssen. Eines der ersten war beim Staatsballett Berlin dem Maler Caravaggio gewidmet, Bigonzetti schuf eine Adaption von Luchino Viscontis Film „Rocco und seine Brüder“ und eine moderne Version von „Alice im Wunderland“, seine „Vier Jahreszeiten“ gastierten mit Les Grands Ballets Canadiens 2009 im Festspielhaus, das Aterballetto war 2011 mit Bigonzettis „Carnet de Notes“ in Baden-Baden zu Gast. Die Faszination des Choreografen für Franz Kafka fand in „Der Prozess“ ihren Ausdruck, zunächst in Hannover, dann beim Tschechischen Nationalballett in Prag.
Bigonzetti ist ein Choreograf mit vielen Stilen, sein Idiom beruht auf dem Vokabular des klassischen Balletts. Die feine Neoklassik wandelte sich nach und nach zu einem athletischen, kraftvollen Tanz, ob auf Spitze oder flacher Sohle. Die Liebe zu Italien und zur mediterranen Kultur schlägt immer wieder durch, nicht nur in folkloristischen Werken wie „Cantata“ mit erdverbundener, nächtlicher Tanzlust, auch in Adaptionen italienischer Themen oder der Auswahl italienischer Musik. Der Tanz in seinem Heimatland war ihm zeitlebens eine Herzensangelegenheit, für die er immer noch kämpft. Bigonzetti choreografierte auch zu vielen der klassischen Ballettmusiken, schuf „Les Noces“ und „Le Sacre“ zu Igor Strawinsky, eine sehr moderne Version von Sergej Prokofjews „Romeo und Julia“ mit Motorradhelmen auf den Köpfen der verfeindeten Familien. Er ließ zu Purcell, Vivaldi, Bach und Händel tanzen, widmete Wolfgang Amadeus Mozart ein Stück namens „WAM“, schuf Werke zu Musik von John Cage, Helmut Lachenmann oder Nino Rota, zu Jazz, Pop, elektronischer Musik und Chansons von Edith Piaf. Für den früheren Stuttgarter Ballettstar Egon Madsen, der bis ins hohe Alter auf der Bühne stand, kreierte er mehrere Solos und inszenierte einen „König Lear“ als choreografisches Theaterstück – beide Künstler vereint ein abgründiger Sinn für Humor.
All seine Bewegung geht von der Musik aus, Bigonzettis Werke leben weniger von einer Struktur als von der Atmosphäre. Bei aller Abstraktion ist sein Tanz immer expressiv und tendiert zur Innenschau, oft unterliegt ihm ein Strom dunkler Emotion. Immer wieder erfindet der Italiener raffinierte, sehr eng getanzte Duos, ein gewagtes Partnern mit Würfen oder Sprüngen direkt auf den Körper, unmöglich erscheinende Verschlingungen und Hebungen. Die Spannung zwischen zwei Menschen regt seine Fantasie stets erneut an, bei kaum einem anderen Choreografen sieht man derart viele, derart unmöglich erscheinende Varianten. Aus scheinbar unauflösbaren Körperverhakungen gehen plötzlich symmetrische Körperskulpturen von großer Schönheit und Plastizität hervor. Wie zahlreiche seiner Kollegen mag es auch Bigonzetti eher minimalistisch, aufwendige Bühnenbilder oder Kostüme ersetzt er durch ein atmosphärisches Lichtdesign, das in seinen Werken eine große Rolle spielt.
Zu seinen bekanntesten Stücken, die heute bei vielen Kompanien im Repertoire sind, gehören „Cantata“ „Rossini Cards“, „Le Sacre“, „Les Noces“ und „Vertigo“. Musik aus Franz Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ setzte Mauro Bigonzetti bereits 1994 in der kurzen, dichten Miniatur „Pression“ in Szene, wo er sie Helmut Lachenmanns gleichnamigem Musikstück gegenüberstellte. Die Tänzer des Prager Nationalballetts kennen seinen Stil bestens, vor wenigen Jahren tanzten sie sein dunkles, unheimliches Werk „Kafka: Der Prozess“.
Angela Reinhardt