28.03.22

Zwischen Stille und Raserei

Berliner Philharmoniker und Andris Nelsons bieten Karsamstag musikalische Extreme

Die Berliner Philharmoniker spielen am Karsamstag ein besonders vielseitiges Konzert unter der Leitung des lettischen Dirigenten Andris Nelsons. Im Zentrum ihres Abends steht Igor Strawinskys monumentales „Le sacre du printemps“, das bei seiner Uraufführung 1913 das Publikum in Paris zur Raserei brachte. Unter der Leitung des Leipziger Gewandhaus-Kapellmeisters erklingen außerdem Werke des sowjetisch-polnischen Komponisten Mieczysław Weinberg und Jüri Reinveres Notturno „Maria Anna, wach, im Nebenzimmer“. Solist ist der schwedische Ausnahme-Trompeter Håkan Hardenberger.

Später Ruhm nach schwerem Schicksal

Mieczysław Weinbergs Musik wird seit etwa zehn Jahren wiederentdeckt. Aufführungen seiner Oper „Die Passagierin“ in Deutschland sorgten maßgeblich dafür, dass sich die Musikszene dem in Warschau geborenen und 1996 in Moskau verstorbenen Pianisten und Komponisten wieder zuwendete. Weinbergs Leben glich dem Schicksal vieler im Zweiten Weltkrieg aus Polen nach Russland geflüchteten Menschen. Auf der Flucht verlor er einen Teil seiner Familie. Weinberg schaffte es, Kontakt mit Dmitry Schostakowitsch aufzunehmen, der ihm half, in der Sowjetunion als Komponist Fuß zu fassen. Schostakowitsch war es auch, der Weinbergs Trompetenkonzert als „Sinfonie für Trompete und Orchester“ bezeichnete, was das Werk treffend charakterisiert. Weinberg gelang hier das wohl bedeutendste Konzert für dieses Instrument, in seinen Ausmaßen einer Sinfonie mehr als ebenbürtig. Deshalb setzen sich neben Trompeter Håkan Hardenberger, der am Karsamstag den Solopart übernimmt, auch die Berliner Philharmoniker dafür ein. Unter der Leitung von Dirigent Andris Nelsons, der selbst ausgebildeter Trompeter ist, eine unvergessliche Interpretation..

Nachtträumereien nach Mozart

„Maria Anna, wach, im Nebenzimmer“ – schon der Titel macht neugierig. Der estnische, in Deutschland lebende Komponist Jüri Reinvere bezieht sich in seinem 2021 uraufgeführten „Notturno für Orchester“ auf Mozarts ältere Schwester Maria Anna, genannt „Nannerl“. Sie war musikalisch hochbegabt und konzertierte als Kind mit ihrem Bruder in ganz Europa. Doch als Frau im 18. Jahrhundert konnte sie ihre Anlagen kaum entfalten. Wolfgangs Musik lauschte sie gleichsam aus dem „Nebenzimmer“, etwas melancholisch womöglich, aber – so Reinvere – ohne ihre Lebensfreude und Zuversicht zu verlieren. Stilistische Anleihen aus der Mozart-Zeit fehlen in dem neuen Stück, doch genau wie Mozart schreibt Reinvere Musik nicht über, sondern für die Nacht: „Dabei entsteht vielleicht die Atmosphäre eines mehrfach zerreißenden Wachtraums zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein, ein Notturno des Schwebens.“ Der in Estland geborene Jüri Reinvere, der in Helsinki und Warschau studierte, ist in einem Schnittpunkt der Kulturen des Ostseeraums aufgewachsen. Berührungspunkte mit der von geschichtlichen Brüchen gezeichneten Musik deutscher Prägung gibt es bei ihm kaum, eher mit der Klangwelt der französischen Moderne. Wichtiger als das Reagieren auf kurzzeitige Befindlichkeiten sind ihm die sensible Erkundung menschlicher Innenwelten und der Blick auf überzeitliche oder historische Phänomene. Im lettischen Dirigenten Andris Nelsons findet Jüri Reinvere einen Botschafter seiner Musik.

Das Frühlingsopfer

Als Igor Strawinsky an seinem Ballett „Der Feuervogel“ arbeitete, kam ihm die Idee, eine Musik zu erfinden, die ein archaisch-heidnisches Ritual beschreibt. „Le sacre du printemps“ wurde im Rahmen der damals höchst beliebten Reihe „Ballets Russes“ 1913 in Paris uraufgeführt. Zwar reagierte das Premierenpublikum ungehalten auf Strawinskys kühne Ideen – der Pariser Polizeibericht meldete am Folgetag sogar zahlreiche Verletzte und Anzeigen nach dem Konzert – doch nach und nach setzte sich Strawinskys kompromissloses Werk in den Konzertsälen und auf den Ballettbühnen der Welt durch. Heute gehört „Le sacre du printemps“ mit seiner Poly-Tonalität und der Poly-Rhythmik zu den absoluten Klassikern der Moderne. In Filmen, Neu-Choreografien und zahlreichen konzertanten Aufführungen wurde 2013 – zum 100. Geburtstag des Werkes – an dessen Bedeutung für die heutige Musik erinnert. Der französische Spielfilm „Coco Chanel und Igor Strawinsky“ (2009) beginnt mit einer Rekonstruktion der Uraufführung, die Vaslaw Nijinsky choreografiert hatte.

Ein Gewandhauskapellmeister in Boston

Andris Nelsons ist Musikdirektor des Boston Symphony Orchestra und Gewandhauskapellmeister des Gewandhausorchesters Leipzig. Durch diese beiden Positionen und sein persönliches Engagement entstand eine zukunftsweisende Verbindung zwischen den zwei Institutionen, die den Grammy-gekürten Nelsons als einen der renommiertesten und innovativsten Dirigenten in der internationalen Musikszene ausweisen.

Seine Tätigkeit als Musikdirektor des Boston Symphony Orchestra (BSO) nahm Nelsons mit Beginn der Saison 2014/15 auf. Zum Leipziger Gewandhauskapellmeister in der Nachfolge großer Dirigenten wie Felix Mendelssohn-Bartholdy, Arthur Nickisch, Wilhelm Furtwängler und Kurt Masur wurde Andris Nelsons 2018 berufen.

Botschafter der Neuen Musik

Håkan Hardenberger ist einer der anerkanntesten Trompeter weltweit. Etliche der für Hardenberger geschriebenen Werke gehören zum Standardrepertoire für Trompete, von Komponisten wie Sir Harrison Birtwistle, Brett Dean, HK Gruber, Hans Werner Henze, Betsy Jolas, Arvo Pärt, Toru Takemitsu, Mark-Anthony Turnage und Rolf Wallin. Geboren in Malmö begann Hardenberger im Alter von acht Jahren mit Trompetenstunden bei Bo Nilsson. Später studierte er an der Pariser Musikhochschule bei Pierre Thibaud sowie in Los Angeles bei Thomas Stevens. Er ist Professor am Malmö Conservatoire.