Zombies bei Mahler
Wer kennt schon die dritte Strophe eines Kinderliedes auswendig? Im Fall vom „lieben Augustin“ lohnt es sich genauer hinzuschauen:
Der Augustin ist ein Wiener also. Und dass „alles hin“ ist, und dennoch im Kinderlied freudig besungen wird, zeigt an, wie speziell es ist, das Verhältnis der Wiener zu dem Tod. Die Bewohner der österreichischen Hauptstadt sollen in den Sensenmann geradezu vernarrt sein. „Schau, die Sonne ist warm und die Lüfte sind lau, geh ma Tauben vergiften im Park“ empfiehlt etwa Georg Kreisler in seinem berühmt gewordenen Lied. Es war wohl die Pest, die von 888 bis 1714 mehrmals in der Stadt wütete und damit auch kulturell ihren Stempel der Stadt aufdrückte. Auf diese Pest bezieht sich dann auch das Lied vom Augustin aus Wien, und, über viele Ecken, vielleicht sogar Kreislers Chanson (Tauben, sind das nicht die „Ratten der Lüfte“? Da muss der Wiener doch etwas gegen tun!).
Schaut man auf die gehobene Musik der Stadt, dann findet man zwei große Sänger des Todes, Franz Schubert und Gustav Mahler. Mahlers neunte Sinfonie beginnt mit einem langsamen Marsch, der das „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“ aus Schuberts „Winterreise“ fortschreitet – im wahrsten Sinne des Wortes, denn auch Schuberts Lied ist ein Marsch. Ein Blick in Mahlers Partitur öffnet einem Augen und Ohren: „Schattenhaft“ findet man da, auch „Wie ein schweres Kondukt“ (Trauerzug). Die Dramaturgie des ersten Satzes ist recht einfach: Mahler baut eine strahlende Welt, um sie dann zu zerstören. Dann baut er sie wieder auf, zerstört wieder, baut wieder auf, zerstört, baut wieder auf – es wäre möglich, die von der Pest geprägte Stadtgeschichte in diesem Auf und Ab zu hören, welches prinzipiell unendlich wiederholbar ist und in die Zukunft weist: Mahlers neunte Sinfonie wird dann auch gern prophetisch gedeutet, als Vision vom Untergang der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie.
Doch nun zu den Zombies: Der Begriff „Wiedergänger“ bringt diese Untoten besser auf den Punkt, findet man doch den für Schubert und Mahler so wichtigen „Wanderer“ im Wort, der ein- und auszieht, ein- und auszieht, und dabei stets fremd bleiben muss. In Mahlers neunter Sinfonie, erstem Satz, erheben sich diese Wanderer immer direkt nach den musikalischen Zerstörungen, und eben hier findet man dann auch die musikalische Bezeichnung „schattenhaft“.
Ein letztes Mal nochmal zum „Augustin“: Hier singt der Tod ein Kinderlied. Dieses ist eigentlich ein Tanz, ein kleiner Walzer. Mit diesem Kindertanzlied im Ohr hört man plötzlich auch die Mittelsätze aus Mahlers Sinfonie neu, den Ländler im zweiten Satz („Etwas täppisch und sehr derb“ schreibt Mahler drüber) und die Burleske im dritten Satz („Sehr trotzig“). Es sind Totentänze. Dass sie dabei oft sehr lustig klingen, passt ins Bild.