Yannicks Garten
Sommerfestspiele 2025
Man ist geneigt, dem Märchen über die Entstehungsgeschichte Baden-Badens Glauben zu schenken: Als es den Göttinnen und Göttern der Schönheit, der Muse und der Natur danach zumute war, haben sie mit himmlischen Würfeln gespielt und dabei Baden-Baden einfach in die Landschaft gewürfelt. „Nun gebt all dem auch eine Seele!“, sollen die Götter als menschliche Gegenleistung gefordert haben. Es waren vor allem Musiker, die dem Götterwillen Folge leisten sollten. Sie fanden sich im 19. Jahrhundert hier ein und verzauberten mit ihren Stimmen und Instrumenten alle, die ihnen zuhörten. Niccolò Paganini, Clara Schumann, Johannes Brahms, Giacomo Meyerbeer, Pauline Viardot, Hector Berlioz, Franz Liszt, Hans von Bülow und Johann Strauß gehörten zu den Berühmtheiten, die Baden-Baden zu einem frühen Festspielort machten. Hector Berlioz, der in Baden-Baden Mitte des 19. Jahrhunderts über viele Jahre große Sommerkonzerte dirigierte und dafür erstmals den Begriff des „Festivals“ nutzte, fand für Baden-Baden folgende Zeilen: „Wenn Ihr einmal da seid, werdet Ihr nicht mehr wegwollen. Es ist ein Garten, eine Oase, ein Paradies.“ Ein berühmter Musikerkollege aus unserer Zeit würde ihm da sicher zustimmen: Yannick Nézet-Séguin hat Baden-Baden zu seiner künstlerischen Sommerresidenz erkoren – für die Stadt und das Festspielhaus ein absoluter Glücksfall. Der in Kanada aufgegangene Stern am Dirigentenhimmel ist seit 2000 Künstlerischer Leiter und Chefdirigent des kanadischen Orchestre Métropolitain, 2019 unterschrieb er für diese Position auf Lebenszeit. Nach einer Reihe von Dirigaten an bedeutenden Konzerthäusern in ganz Europa wurde er 2012 Musikdirektor des renommierten Philadelphia Orchestra, wo sein Vertrag inzwischen eine Laufzeit bis 2030 hat. Seit 2018 ist er zusätzlich Musikdirektor der Metropolitan Opera in New York. Und Anfang 2025 wurde bekannt, dass er am 1. Januar 2026 das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker leiten wird.
In Baden-Baden stellte sich Nézet-Séguinbei den Sommerfestspielen 2011 mit Mozarts „Don Giovanni“ vor und löste Begeisterungsstürme aus. Eine Stimme von damals, die nicht singulär bleiben sollte: „Mit Yannick Nézet-Séguin geht in Baden- Baden die Sonne auf.“ In den Folgejahren dirigierte er bei den Sommerfestspielen weitere Mozart-Opern. Alle wurden von der Deutschen Grammophon aufgenommen. Seine große Verehrung und die Verbundenheit mit Mozarts Musik wird der Ausnahmedirigent in Baden-Baden auch bei den Sommerfestspielen 2025 im Festspielhaus glanzvoll dokumentieren. Die Begeisterung war schnell beidseitig und ließ eine Freundschaft wachsen: Der Naturliebhaber und geträumte Zweitberuf-Florist Nézet-Séguin hat sich schnell von der Lichtentaler Allee und dem blumenreichen Charme Baden-Badens verzaubernlassen. Der Wechsel von New York in den grünen Salon an der Oos scheint auf ihn wie ein Umschalten von metropolitaner Hochspannung zu musisch meditativer Entspannung in der Oase zu wirken. Die idyllische Sommerfrische am Fuß des Schwarzwaldes schenkt dem lärmgeplagten Weltenbürger körperliche und mentale Frische.
Damit steht Nézet-Séguin in der Tradition einiger großer Musiker, die sich an der Oos aus den gleichen Gründen wohlfühlten. Aus ihren Briefen kennt man die Blumenliebe von Clara Schumann, vor allem für die üppige Flora in ihrem Baden-Badener Garten an der Lichtentaler Allee. Und die inspirierenden Spaziergänge von Johannes Brahms zu den Geroldsauer Wasserfällen sind verbrieft. Dass sich die Beziehung Nézet-Séguins zu Baden-Baden vertiefte, nimmt also nicht Wunder. Der Wunsch, hier mit den Sommerfestspielen „etwas zu bewegen“, nahm im Jahr 2021 konkrete Formen an: Yannick Nézet-Séguin übernimmt als Kurator die künstlerische Leitung der Sommerfestspiele „La Capitale d’Été“ und wird neben Intendant Benedikt Stampa zur zentralen Figur des Festivals. Seither brachte er Orchester mit, die in seinem musikalischen Leben eine wichtige Rolle spielen: das Met Orchestra, das Chamber Orchestra of Europe. Dieses Jahr ist es das Orchestre Métropolitain aus Montreal aus seiner kanadischen Heimat. Der Ausnahmedirigent verkörpert alles, was das Festspielhaus Baden-Baden erfolgreich gemacht hat: höchste Qualität, Intensität und Innigkeit, Wertschätzung von Details und Mut zu neuen Formen. Nézet-Séguin bringt eine außergewöhnliche Leidenschaft und emotionale Tiefe in seine Interpretationen ein. Sein Dirigierstil ist dynamisch und ausdrucksstark, dabei stets präzise. Im persönlichen Verhältnis zu den Orchestern ist ihm jede Oberlehrer-Attitüde fremd. Die Musikerinnen und Musiker, mit denen er arbeitet, schätzen seine inspirierende und kollegiale Art. Man darf also neugierig und voller Vorfreude auf die diesjährigen Sommerfestspiele in Baden-Baden sein, die ihre Prägung und ihren Zauber erneut von Yannick Nézet-Séguin erhalten. Nach dem Auftaktkonzert am Samstag, den 28. Juni mit dem gefeierten französischen Pianisten Alexandre Kantorow dirigiert er am Sonntag, den 29. Juni eine große Operngala mit dem Orchestre Métropolitain. Solistin des Abends ist Lisette Oropesa, die ihr Publikum an der New Yorker Met, aber auch an der Mailänder Scala und der Wiener Staatsoper begeistert. Am Freitag, den 4. Juli warten mit dem Mozart-Requiem und der Sinfonie Nr. 40, beide von Nézet-Séguin dirigiert, weitere Highlights auf das Publikum. Beim Kammermusikabend am Samstag, den 5. Juli zeigt sich Yannick Nézet-Séguin als Pianist und lässt gemeinsam mit Musikerfreundinnen und -freunden Werke von Robert Schumann und Mozart erklingen. Auch das Abschlusskonzert der diesjährigen Sommerfestspiele gibt Grund zur Vorfreude. Yannick Nézet-Séguin dirigiert das Chamber Orchestra of Europe in einem festlichen Finale mit Mozarts „Jupitersinfonie“ und der c-Moll-Messe. Wer also erfahren möchte, wie belebend, musikalisch und von schönster Natur beschattet die heißen Tage des Jahres sein können, dem sei zur Sommerfrische das Festival „La Capitale d’Été“ mit Yannick Nézet-Séguin in Baden-Baden empfohlen.
Helmut Bischoff