15.06.22

Wer hat Angst vor van B.?

Louise Farrenc jedenfalls nicht: das Wiedererklingen einer meisterlichen Komponistin

Wenn Frauen von Männern „gelobt“ werden, ist oft höchste Vorsicht geboten. Etwa hier: „Gut geschrieben und mit einem für eine Frau außergewöhnlichen Talent orchestriert.“ Die Kollegin, die Hector Berlioz da so zweifelhaft würdigte, hieß Louise Farrenc. Und man darf vielleicht ganz froh sein, dass man diese Schleiferin nicht als Klavierlehrerin hatte. Von „äußerster Disziplin und unerbittlicher Strenge“ sei ihr Unterricht gewesen, befand ihr Konservatoriumskollege Professor Marmontel 1878, drei Jahre nach Farrencs Tod, kurzum: „la froideur“ – Kälte umgab sie! Derartige Begriffe kennt man nur zu gut aus heutigen Verunglimpfungen selbstbewusster Frauen. Da ist es interessant, dass Madame Farrenc am Pariser Konservatorium für einige Unruhe gesorgt hatte. Sie hatte sich nämlich keineswegs mit keuscher Dankbarkeit dafür begnügt, dass man sie dort 1842 zur ersten Professorin auf Lebenszeit ernannte. Nein, sie verlangte auch noch „même salaire“: gleiche Bezahlung! Und zwar energisch und immer wieder – bis die Herren nach einigen Jahren zähneknirschend nachgaben.

Auch andernorts wurde Farrenc als „eine distinguierte, aber strenge und kühle Erscheinung“ beschrieben: „reserviert, blass und asketisch“. Es mag sein, dass sie tatsächlich für ihren außerordentlichen Werdegang einen persönlichen Preis hatte zahlen müssen. In den letzten 15 Jahren ihres Lebens dann – nach dem Tod der hochbegabten, schon früh erkrankten Tochter Victorine und ihres Mannes Aristide – gab sie das Komponieren auf und widmete sich der Edition alter Klaviermusik seit 1500.

Und doch war das Talent von Farrenc, die 1804 als Jeanne Louise Dumont geboren wurde, vergleichsweise noch vom Schicksal begünstigt. Man denke an die Steine, die ungefähr gleichaltrigen deutschen Komponistinnen wie Fanny Mendelssohn oder Clara Wieck in den Weg gelegt wurden – auch und gerade von vertrauten Männern wie dem Bruder Felix oder dem Ehemann Robert Schumann, die ja nun eigentlich tiefstes Verständnis für das Schaffenwollen und Schaffenmüssen eines schöpferischen Menschen hätten haben müssen. Hier war Frankreich im 19. Jahrhundert Deutschland gesellschaftlich, geistig und kulturell weit voraus. Das Kind Louise hatte dazu noch persönlich Glück, dass die Eltern – selbst bildende Künstler – die Ambitionen der Tochter nicht bloß duldeten, sondern unterstützten. Aristide Farrenc, den Louise mit 17 heiratete, scheint ein echter Partner gewesen zu sein, der die Ehe nicht zur Sackgasse machte für die Laufbahn der Frau.

Louise Farrencs Musik hat dann auch nichts Errungenes, Abgetrotztes oder auch nur Kämpferisches. Von Askese, Blässe oder „froideur“ kann schon gar keine Rede sein! Naturgemäß komponierte Farrenc als vorzügliche Pianistin sehr viel Klavier- und Kammermusik. Dazu kommen neben mehreren kleineren Orchesterwerken drei Sinfonien, geschrieben zwischen 1842 und 1847. Und die haben es in sich. Die ersten beiden wird man ohne Zweifel „klassizistisch“ nennen, das heißt hier: reich an Charme, Esprit, schlanker Eleganz. Im Kopfsatz der zweiten Sin[1]fonie gibt es Momente voller „Figaro“- Schwung. Es hat einen ganz aparten Reiz, solch famose Wiener Klassik aus dem Paris der 1840er-Jahre zu hören.

Das hatte seinen Grund. Die junge Louise Farrenc hatte Komposition bei Anton Reicha studiert, Beethovens engem Weggefährten. Auch die Namen ihrer (zumindest kurzzeitigen) Klavierlehrer Johann Nepomuk Hummel und Ignaz Moscheles zeigen, wie deutsch und wienerisch Farrencs Werdegang geprägt war. Ein bisschen extravagant war Farrencs Ästhetik in ihrem Umfeld wohl: Denn das Paris ihrer Zeit war dominiert von der üppigen, ausufernden Grand Opéra. Giacomo Meyerbeer feierte sensationelle Erfolge, nachdem einige Jahre zuvor Daniel-François Esprit Auber das Opernzepter geschwungen hatte. Auber war es übrigens auch, der dann als fast 70-jähriger Konservatoriumsdirektor der beharrlichen Farrenc 1850 die gleiche Bezahlung gewähren musste wie ihren männlichen Kollegen. Vielleicht hätte Farrenc auch Opern komponiert, wenn sie an ein ordentliches Libretto gekommen wäre. So ergab sich für sie eine musikalische Sonderstellung als Sinfonikerin. Und wahrscheinlich profitierte sie davon, dass die sinfonische Form in Frankreich nicht derart überhöht und mythisiert war wie in Deutschland, wo ein zwanghafter musikalischer Fortschrittsglaube junge Komponisten zu erdrücken drohte, sobald sie nur ans Wort „Sinfonie“ dachten.

Louise Farrencs dritte und leider – trotz ziemlichen Erfolgs – letzte Sinfonie ist nochmals von anderem Kaliber als die beiden hörenswerten, genussreichen Vorgängerinnen. Unbestreitbar erinnern Vokabular und Architektur des g-Moll-Werks an den riesenhaften Ludwig van, dessen Schatten Madame F. – anders als ihren deutschen Kollegen Schumann oder Brahms – keine Angst einflößte. Man höre sich nur die große Steigerung in der Mitte des langsamen Satzes an: Da könnte man sich in Beethovens Zehnter wähnen.

Aber das ist gar nicht so wichtig. Entscheidend ist, dass dies wunderbare, manchmal betörend schöne Musik ist. Das erwähnte Adagio aus der Dritten ist eine wahre Himmelsschöpfung, die Behandlung der Holzbläser etwa lässt das Herz vor Freude hüpfen. Dabei baut Farrencs Musik im Gegensatz zum klassischen Beethoven selten auf Kontrasten auf, sondern eher auf Themen, die einander ergänzen. „Idées mères“ nennen das die Herausgeberinnen der Farrenc-Werkausgabe: Ideen, die andere Ideen gebären. Also doch etwas spezifisch Weibliches? Oder gar ein Werk, das wiederentdeckt werden sollte, nur weil es von einer Frau stammt? Zu den unkaputtbaren männlichen Frechheiten gehört ja auch, Kolleginnen, die in Männerdomänen auftauchen, einen „Frauenbonus“ zu unterstellen – ziemlich unverfroren in einer Kultur des allgegenwärtigen Männerbonus. Farrenc hätte ihre Kunst gewiss nicht als eine Frauensache empfunden, sondern sich Seite an Seite mit Beethoven oder Brahms am rechten Platz gesehen. Nein: Sie hätte beharrlich darauf bestanden. Und mit Genugtuung zur Kenntnis genommen, dass ihre Musik nicht nur ganz allgemein „wiederentdeckt“ wird, sondern wiedererklingt. Denn nur aufgeführte Musik ist lebendige Musik. Und Musik von Louise Farrenc zu hören, ist ein Glück.

Autor: Albrecht Selge ist Schriftsteller und lebt in Berlin. 2019 erschien sein Roman „Fliegen“, im Jahr darauf kam der Roman „Beethovn“ in die Buchhandlungen. Selge führt den Klassik-Blog „Hundert11 – Konzertgänger in Berlin“ (hundert11.net).