Verliebt in die Heldin
Berlioz, „Les Troyens“ und Baden-Baden
Seine liebste Heldin präsentierte der Komponist Hector Berlioz hier in Baden-Baden erstmals dem Publikum: Dido, Königin von Karthago in der Oper „Les Troyens“. Im Galakonzert „25 Jahre Festspielhaus“ schlüpft MET-Queen Joyce DiDonato in diese Rolle – als Hommage des New Yorker Opernhauses an die reiche Musikgeschichte unserer Stadt. Mehr darüber im Auszug aus dem Programm zu den Sommerfestspielen 2023 „La Capitale d’Été“.
„Les Troyens“ von Hector Berlioz ist eine Frauenoper. Nicht nur, dass ihre beiden Teile von zwei starken, mit brennender künstlerischer Empathie gezeichneten weiblichen Hauptfiguren geprägt sind: Kassandra und Dido. Auch in ihrer Entstehungsgeschichte haben Frauen entscheidende Rollen gespielt. Hier wäre zunächst Elisabeth Fürstin zu Sayn Wittgenstein zu nennen, Franz Liszts Lebensgefährtin seit seiner Zeit in Weimar. Nachdem Berlioz mit beiden schon 1855 über die Idee einer Oper auf der Grundlage von Vergils „Aeneis“ gesprochen hatte, war sie es, die ein Jahr später den finalen Impuls setzte, von dem aus es kein Zurück mehr geben sollte: „Hören Sie, sagte die Prinzessin zu mir, wenn Sie vor den Mühen zurückschrecken, die dieses Werk Ihnen bereiten kann und bereiten muss, wenn Sie so schwach sind, dass Sie sich davor ängstigen und für Dido und Kassandra nicht bereit sind allen Widrigkeiten zu trotzen, dann treten Sie mir nie wieder unter die Augen, dann will ich Sie nicht mehr sehen. So vieler Worte hätte es gar nicht bedurft, um mich zu einer Entscheidung zu bringen.“
Als Hector Berlioz sich 1864 im Nachwort seiner berühmten Memoiren an diesen Moment erinnerte, war seine Gemütsverfassung geprägt von der bitteren Enttäuschung darüber, dass seine sechs Jahre zuvor vollendeten „Trojaner“ noch immer einer vollständigen Aufführung harrten. Auch haderte er damit, sich auf den Kompromiss eingelassen zu haben, das Werk zu teilen. In dieser verstümmelten Form kamen 1863 zumindest die Akte III bis V als „Les Troyens à Carthage“ im Pariser Théâtre Lyrique auf die Bühne. Umso wichtiger war es ihm, noch einmal festzuhalten, welch tiefer innerer Antrieb ihn leitete, aus Teilen von Vergils „Aeneis“ eine Oper zu formen, die sein schöpferisches Vermächtnis werden sollte. Die Versicherung, „so vieler Worte hätte es gar nicht bedurft“, nimmt man Berlioz als Leser der „Mémoires“ sofort ab, so sehr durchzieht der Enthusiasmus für Vergils Epos seine Lebensbeschreibung. Von Didos Schicksal war schon der kleine Hector zutiefst ergriffen, als der Vater ihm aus der „Aeneis“ vorgelesen hatte – im lateinischen Original versteht sich.
Von der Fürstin kam dann mehr als nur der entscheidende Anstoß, sich tatsächlich ans große Werk zu machen. Sie korrespondierte mit Berlioz intensiv über den Fortgang des Textbuches, das der Komponist selbst verfasste.
Dass dieser die Oper seiner energischen Antreiberin und Gesprächspartnerin schließlich in privater Form zueignete (die offizielle, lateinische Widmung lautet „Divo Virgilio“ – „Dem göttlichen Vergil“), zeigt die Bedeutung und Wertschätzung, die Berlioz ihr beimaß.
Die andere Zeitgenossin, die an der verschlungenen Geschichte der Oper kurz, aber entscheidend mitgeschrieben hat, ist Pauline Viardot-García. Berlioz konnte die legendäre Sängerin dafür gewinnen, bei der ersten öffentlichen Aufführung dreier Ausschnitte aus dem ersten und vierten Akt mitzuwirken. Diese fand am 29. August 1859 in Baden-Baden im Saal des Conversationshauses (heute Weinbrennersaal) statt. Anlass war der vierte Aufenthalt des Komponisten in der für die Pariser gehobene Gesellschaft so wichtigen „Sommerhauptstadt“ Europas. Oscar Édouard Bénazet, Pächter der Spielbank, lud Berlioz bis 1863 jährlich im August zu einem großen Orchesterkonzert ein, was dieser auch dazu nutzte, eigene Werke aufs Programm zu setzen.
Im Fall von „Les Troyens“ war sein Kalkül klar: Weil sich zu diesem Zeitpunkt die ursprünglich fest zugesagte Uraufführung an der Pariser Opéra zu zerschlagen drohte, wollte Berlioz aus der Ferne die Werbetrommel für sein Werk rühren. Eine prominente Interpretin wie Pauline Viardot garantierte nicht nur vokale Exzellenz, sondern verlieh dem Werk mit ihrer künstlerischen Autorität auch ein Gütesiegel. Man kann nur erahnen, welchen Eindruck die Sängerin, die vier Jahre später nach Baden-Baden ziehen und die Kurstadt als Kulturort maßgeblich prägen sollte, damals machte. Der Berichterstatter des „Badeblattes“ formulierte es so: „Die Partien der Cassandra und Dido fanden aber auch durch Mad. Viardot eine so ausgezeichnete Interpretation, wie nur eine in jeder Beziehung so vollendete Künstlerin sie darbieten konnte.“ Die Partien der Cassandra und Dido? Tatsächlich schlüpfte Pauline Viardot an diesem Abend in beide Rollen, darunter zwei Duette mit dem Tenor Jules Lefort, was die weiblich geprägten Korrespondenzen zwischen dem in Troja spielenden ersten Teil und dem in Karthago angesiedelten zweiten Teil der Oper unterstrich.
So beeindruckend die Musik ist, die Berlioz in den Troja-Akten für die mit ihren düsteren Vorahnungen Recht behaltende Königstochter Kassandra geschrieben hat, so spürbar ist das Herzblut, das in das Porträt der Dido geflossen ist. Ihre Präsenz in den Akten III bis V ist, auch textlich, ein Wunder an Feinzeichnung und Tiefenschärfe. Berlioz findet für die politische Figur – die Königin von Karthago – wie für die Privatperson – die liebende und schließlich verlassene Frau – je eigene, ineinander verschränkte Ausdrucksebenen. Aus ihrer ersten Arie („Chers Tyriens“), mit der sie sich an die Karthager wendet, sprechen das Einfühlungsvermögen und der Instinkt einer echten Führungspersönlichkeit. Ihr innig zugewandter Tonfall des Dankes für sieben Jahre Aufbauarbeit schlägt nach und nach in die mitreißende Aufforderung an ihr Volk um, sich den neuen Herausforderungen zu stellen und zu Helden eines drohenden Krieges zu werden. In ihrem Abschiedsgesang „Adieu, fière cité“ wiederum meint man zu hören, dass der Komponist sich – wie er in einem Brief zugab – in seine Protagonistin verliebt hatte. Reminiszenzen an das Duett, an die „Nächte trunkener Ekstase“ mit Aeneas klingen in einem der ergreifendsten Momente der Operngeschichte herüber, ehe Dido den schließlich für sie selbst bestimmten Scheiterhaufen besteigt.
Das leidenschaftliche Duett, das in Didos Erinnerung noch einmal vorüberzieht, hat im Stück eine Vorgeschichte, deren Körperlichkeit bei Vergil klar benannt wird. Berlioz überlässt sie mit einer Nummer der Fantasie des Publikums, die zum suggestivsten gehört, was je für ein Opernorchester geschrieben wurde: In der Szene „Königliche Jagd und Sturm“, einer Mischung aus Pantomime und Tanz zu Beginn des vierten Aktes, öffnet der Orchesterzauberer und Meister musikalischer Raumwirkungen ein Füllhorn sich steigernder Naturstimmungen. Sie stehen für die Wucht, mit der die Liebe zwischen Dido und Aeneas entflammt. Die Grotte, in die sich das Paar vor dem Unwetter flüchten kann, kommt da sehr gelegen…
Die bis ins kleinste Detail festgelegten, exakt auf die Musik abgestimmten Bühnenanweisungen – inklusive eines von einem Felsen herabfließenden Bächleins, das sich in einen reißenden Wasserfall verwandeln muss – waren einer von mehreren, oft vorgeschobenen Gründen, warum viele Theater davor zurück[1]schreckten, die „Trojaner“ auf die Bühne zu bringen. Dass die Oper nach den konzertanten Ausschnitten in Baden-Baden 1859 ausgerechnet im nahe gelegenen Karlsruhe erstmals vollständig zu sehen war (1890, auf zwei ESSAY Abende verteilt), zeigt einmal mehr die nachhaltige Wirkung von Berlioz’ Sommergastspielen auf die Rezeption seiner Musik in Deutschland.
In die wechselvolle Aufführungsgeschichte von „Les Troyens“ hat sich seit der triumphalen Rehabilitation von 1969/70 (vollständige Edition und Gesamteinspielung) auch die Metropolitan Opera New York eingeschrieben: mit einer fast kompletten Produktion 1973 und einer ungekürzten zehn Jahre später. So schließt sich mit dem Berlioz-Programm des MET Orchestra in Baden-Baden ein Kreis, der seine Ursprünge 19. Jahrhundert hat und über das erste Gastspiel der Metropolitan Opera im Jahr 1926 bis in unsere Zeit hinüberschwingt.
(Essay von Juan Martin Koch)