Unerhörte Gestalten
Berlioz stößt die Tür auf zu einer fantastischen Welt
„Das vielleicht seltsamste und kurioseste Werk, das die Fantasie eines Musikers je hervorgebracht hat“ – so nannte ein früher Rezensent Hector Berlioz’ Konzertouvertüre Opus 21 aus dem Jahr 1844. Ihren Titel „Le Corsaire“ erhielt sie zwar erst etwas später, doch die Vorstellung eines Korsaren oder Seeräubers passt ausgezeichnet zu ihrem abenteuerlichen, rebellischen Charakter.
Welche Geschichte die Musik erzählt, ließ Berlioz offen, und auch der zitierte Kritiker ermunterte seine Leser, die eigene Fantasie zu gebrauchen: „Sie können alles vermuten und alles glauben, wenn Sie diese knarrenden Geigen hören, diese krächzenden Oboen, stöhnenden Klarinetten, knurrenden Bässe, röchelnden Posaunen.“
„Les Troyens“, zwischen 1856 und 1858 auf ein eigenes Libretto nach Vergils „Aeneis“ komponiert, war Berlioz’ ambitioniertestes Werk. Eine komplette Aufführung hat der Komponist nicht erlebt. Allerdings dirigierte er im August 1859 Auszüge aus dem ersten und dem vierten Akt bei einem seiner Sommer-Festivalkonzerte in Baden-Baden – vor einem Publikum, das er für aufgeschlossener hielt als die Musikliebhaber in Paris. Solistin war die berühmte Pauline Viardot, die einige Jahre später ihren Wohnsitz nach Baden-Baden verlegte. Aus der insgesamt etwa fünf Stunden dauernden Oper erklingt heute neben zwei bewegenden Arien der Königin Dido die Begleitmusik zu einer Pantomime: Während Dido und der aus Troja geflohene Aeneas in einer Höhle ihre Liebe finden, illustriert Berlioz das turbulente Geschehen vor der Höhle. In seinen eigenen Worten: „Najaden, die in einem stillen Wald baden, ferne Hornrufe, reitende Jäger, geängstigt vom nahenden Sturm, Bäche, die zu reißenden Strömen werden, Unheil verkündende Schreie der zerzausten Nymphen, [...] groteske Tänze der Satyrn und Faune, die brennende Zweige eines vom Blitz getroffenen Baumes schwenken etc. etc.“
Die Idee der „Programmmusik“, einer Verbindung aus Musik und Literatur, war für das Denken der romantischen Epoche zentral, und Berlioz’ „Symphonie fantastique“, komponiert in den Jahren 1830 und 1831, inspiriert durch die unerwiderte Liebe des Komponisten zu einer Schauspielerin, gab dazu einen wichtigen Anstoß. Die Geliebte erscheint dem Helden des Werks gleich nach der Largo-Einleitung in Gestalt einer „idée fixe“. Dieses Thema taucht in allen fünf Sätzen auf – im zweiten, der auf einem Ball spielt, im Walzertakt. Die folgende „Szene auf dem Lande“ zeigt den Helden in friedlicher Stimmung, doch im vierten Satz, dem „Marsch zum Richtplatz“, betäubt er sich mit Opium. Er bildet sich ein, er habe seine Geliebte getötet und werde nun zum Schafott geführt. Das Finale, „Traum eines Hexensabbats“, bringt die Fortsetzung des Opiumrauschs: Auf einem Hexensabbat erblickt der Held die Geliebte inmitten teuflischer Kreaturen. Die Ironie des Schicksals wollte es übrigens, dass Berlioz bei einer Aufführung seiner Sinfonie der heimlich Verehrten vorgestellt wurde. Bald darauf heirateten die beiden – doch glücklich wurden sie nicht miteinander.
von Jürgen Ostmann