Traut sich was
Patricia Kopatchinskaja
Patricia Kopatchinskaja will das Publikum nicht länger unterschätzen. Was das bedeutet, zeigt sie in zwei Konzerten bei den Pfingstfestspielen.
Ich weiß nicht, in welche Schublade ich mich stecken soll“, sagt Patricia Kopatchinskaja. „Weil ich aus jeder herausspringe!“ Die 1977 geborene Geigerin ist der Springteufel der internationalen Klassikszene, eine Interpretin von übersprühender Fantasie, eine abenteuerlustige Virtuosin, eine Sinnsucherin, die am liebsten barfuß auftritt – um geerdet zu bleiben. Aufgewachsen ist sie in einer moldauischen Musikerfamilie. 1989 kam sie nach Wien, begann dort ihr Studium, wechselte nach Bern und lebt seitdem in der Schweiz. Wenn sich Patricia Kopatchinskaja neue Stücke vornimmt, beginnt sie nicht mit Re[1]cherchen zur Entstehungszeit oder Partituranalysen, sondern mit der Praxis. „Ich stürze mich ins Wasser und versuche zu schwimmen“, nennt sie das. „Ich will ein Stück erfahren – spüren, was es mit mir macht. Dabei entdecke ich viele Dinge, die mich interessieren. Und dann beginne ich, mich mit dem Material auseinanderzusetzen.“ Wenn es sich um ein berühmtes Werk des Repertoires handelt, kann es durchaus passieren, dass Patricia Kopatchinskaja zu ziemlich überraschenden Ergebnissen kommt. „Je älter die Stücke sind, je besser wir sie kennen, desto weniger sehen wir sie eigentlich“, sagt sie. „Wir werden immer verschlossener, blinder.“ Damit aber will sie sich nicht abfinden. „Ich muss diese Kathedralen für mich neu bauen, auch auf die Gefahr hin, dass sie dann zusammenfallen.“ Doch die Geigerin bricht die Konventionen nie um der puren Provokation willen, sondern weil sie sich von ihrer inneren Stimme leiten lässt. Ganz anders ist ihr Zugang zu zeitgenössischen Kompositionen und selten gespielten Stücken. Denen nähert sie sich mit Behutsamkeit, lässt ihnen besondere Zuwendung zuteilwerden. So wie beispielsweise bei Arnold Schönbergs atonalem Violinkonzert. „Ich habe dem Werk alles geschenkt, was zur Schönheit beiträgt, habe darauf geachtet, dass es kantabel klingt“, betont sie. Und tatsächlich gelang es ihr so, die Zuhörer in Baden-Baden für die Zwölftonmusik zu begeistern, in einem umjubelten Konzert mit den Berliner Philharmonikern und Kirill Petrenko bei den Osterfestspielen 2019. Zu Pfingsten kommt Patricia Kopatchinskaja mit dem SWR Symphonieorchester ins Festspielhaus, um das Violinkonzert von Esa-Pekka Salonen vorzustellen. Die meisten Klassikfans kennen den Finnen nur als Dirigenten, doch er komponiert schon genauso lange, wie er dirigiert. Das Violinkonzert entstand 2008. „Das ist keine Musik, vor der man Angst haben muss, sie nimmt einen mit, hat einen großen Reichtum an Klangfarben“, schwärmt Patricia Kopatchinskaja.
Ich stürze mich ins Wasser und versuche zu schwimmen. Ich will ein Stück erfahren - spüren, was es mit mir macht.
An die Solistin allerdings stellt dieses Konzert höchste Anforderungen. Mit Powerplay an der Grenze des technisch Spielbaren geht es los, acht Minuten lang. Nach einer kurzen Verschnaufpause folgt ein weiterer enorm virtuoser, schneller Satz – und schließlich ein langsames „Adieu“-Finale, weit ausgreifend und atmosphärisch intensiv. Mit dem Dirigenten Dima Slobodeniouk steht der Geigerin dabei ein echter Künstlerfreund zur Seite. „Mit ihm kann man sehr gut reden, er ist ein liebenswürdiger, intelligenter, zugänglicher Mensch.“ Und damit ein idealer Vertreter der neuen Dirigentengeneration, die Patricia Kopatchinskaja so schätzt. „Es gibt keine Hierarchie mehr, keine Maestri, denen es bei der künstlerischen Arbeit vor allem darum geht, ihren Standpunkt zu behaupten. Solistin und Dirigent begegnen sich mittlerweile auf derselben Ebene, man dient gemeinsam dem Stück – und dem Publikum.“ Typisch Kopatchinskaja ist dann das Kammermusikkonzert am nächsten Abend. Es beginnt mit dem Streichoktett von George Enescu, das der rumänische Komponist im Alter von 19 Jahren geschrieben hat. Das 40-minütige Werk zeugt vom enormen Selbstbewusstsein des jungen Künstlers. „Es riecht französisch“, sagt Patricia Kopatchinskaja, denn Enescu hat sein Handwerk in Paris gelernt. In seiner höchst individuellen, spätromantischen Klangsprache verschmelzen Eleganz und Leidenschaft. Das Oktett, findet die Geigerin, gehört zu den Stücken, die man nicht nur hören, sondern unbedingt auch sehen sollte: „Es ist toll zu beobachten, wer was wann spielt. Bei acht komplexen Stimmen muss man gut differenzieren, sonst wird es eine Soße. Aber wenn man die Musik liebt, sie klingen lässt, ergibt sich das von selbst.“ Als Moldauerin hat Patricia Kopatchinskaja ein besonderes Verhältnis zu Enescu, denn ihre Heimat grenzt an die des Komponisten: „Ich wachse aus diesem Boden, ich kenne die Pflanzen, ich weiß, wie die Tomaten schmecken, ich kenne die Sonne dort, die Sprache, die Menschen, die Herzlichkeit, die Folklore. Enescus Sprache spreche ich ohne Akzent.“ Nur eine kurze Zeitspanne liegt zwischen dem Oktett aus dem Jahr 1900 und der „Ursonate“ von Kurt Schwitters, die 1923 entstanden ist – ästhetisch aber stoßen hier Welten aufeinander. Enescu komponiert ganz im Geist des 19. Jahrhunderts, der deutsche Dadaist hingegen fegt alles hinweg, was der mitteleuropäische Bildungsbürger an Gewissheiten kennt. „Fümms bö wö tää zää Uu, pögiff“, so startet sein Stück, und geht dann völlig sinnfrei weiter, ganz ohne Musik übrigens, denn die Ursonate wird lediglich gesprochen. Es sei denn, das Lautgedicht fällt einer Künstlerin wie Patricia Kopatchinskaja in die Hände. 2018 hat sie mit drei Musikerfreunden aus dem abstrakten Klangmaterial eine halbstündige Filmhandlung entwickelt. „Ich hatte schwarzen Stoff eingekauft, damit wurde ein Zimmer bei mir zuhause ausgekleidet. Und dann hieß es: Okay, machen wir Commedia dell’Arte!“, erinnert sie sich. „Da es vier handelnde Personen gibt, entwickelte sich eine Familiensituation: Die Mutter streitet mit dem Vater, die Kinder wollen eigentlich weg. Man verliebt sich und entliebt sich, es wird Nonsens gemacht, ein Arm wird abgehackt, ein nackter Po kommt vor.“ Das verrückte Filmprojekt hat Patricia Kopatchinskaja frei finanziert, aus Preisgeldern: „Damit wollte ich etwas machen, das ich mich sonst nicht getraut hätte.“ Denn sie verspürt mit zunehmendem Alter ein wachsendes Bedürfnis danach, über das Spezialistentum als Violinvirtuosin hinauszuwachsen, ihre selbst gesetzten Grenzen zu verschieben. Zu ihrer Freude hat sie Ähnliches bei den Klassikveranstaltern festgestellt. „Die sind mutiger geworden“, sagt sie. „Ich glaube, wir haben das Publikum sehr lange unterschätzt. Wir dachten, dass sie Angst vor zeitgenössischer Musik haben – dabei waren wir es selbst, die Angst hatten!“
Autor: Frederik Hanssen