15.03.21

Offene Ohren

Baden-Baden feierte Berlioz, als Paris ihn noch verkannte

Da steht er, wie in Gedanken, im Schatten eines niedrigen, weit ausladenden Baumes. Die Wange auf die rechte Hand gestützt, der Blick nach innen, während um ihn herum die Enten im Parkteich schnattern. Unter ihm, in den Tiefen der städtischen Parkhausspirale, ziehen die Autos mühsam ihre Kreise. Diese Mischung aus Idyll und Inferno, aus Naturlaut und Maschinengetöse hätte ihm gefallen: Hector Berlioz, verewigt mit einer Büste im Park, der seinen Namen trägt, gleich neben dem Festspielhaus Baden-Baden verdankt dem großen französischen Romantiker viel – und es hat ihm sehr viel gegeben.

Denn Metropolen wie Paris sind nicht immer das beste Pflaster für neue Ideen. Schließlich hat man einen Ruf zu verlieren! In den Sturm, den Berlioz über dem Gewohnten entfachte, konnte man nicht einfach sein Fähnchen hängen: Es würde einem um die Ohren fliegen. Der Komponist, der mit seiner „Symphonie fantastique“ nur sechs Jahre nach der „Neunten“ den Revolutionär Beethoven schon recht alt aussehen ließ, hat Radikales zu bieten: Riesig besetzte Orchester mit phantastischen Instrumenten wie Serpenten, Ophikleiden, Glocken, doppelt besetzten Harfen und Pauken, die, von vier Musikern gespielt, in Akkorden dröhnen; dazu Streichergruppen, die in unterschiedliche Stimmen aufgespalten sind und für phantastisch schillernde Klänge sorgen; und überhaupt Werke, die nicht mehr tradierten Formen folgen, sondern ihre musikalische Substanz aus Gedichten, Dramen, „fixen Ideen“ und Drogenhalluzinationen gewinnen. Die Pariser hatten ihre Schwierigkeiten damit. Bis sie sich endlich für Berlioz interessierten, hatte der anderswo eine neue musikalische Gattung etabliert: die romantische Programmmusik. Franz Liszt, Richard Wagner, Richard Strauss, auch Gustav Mahler gingen Wege, die Berlioz für sie eröffnet hat.

Seine Breschen schlug der Franzose gern in Baden-Baden. Unterstützung fand er bei einem anderen Franzosen: Édouard Bénazet, Spielbankpächter, Gönner und Mäzen der Stadt an der Oos, die er Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer Blüte brachte. Dass Berlioz für das neu gebaute Baden-Badener Theater die Oper „Béatrice und Bénédict“ komponieren und 1862 dort uraufführen konnte, hatte er Bénazet zu verdanken. Und den Bürgern und Besuchern Baden-Badens, die den Komponisten zu dieser Zeit schon bestens kannten und schätzten. „In Baden-Baden ist es anders: man verdient gutes Geld, kann gute Musik machen und findet ein kultiviertes und intelligentes Publikum“, schrieb der Komponist 1858 seiner Schwester Adèle. Von 1853 bis 1863 war Berlioz ganze neun Mal in Baden-Baden, wo er in den Sommern beim jährlichen Festival, das Bénazet organisierte, ein großes Konzert dirigierte mit eigenen Werken und Musik anderer Komponisten. Immer, so schrieb er es den Parisern 1857 im „Journal des Débats“ hinter die Ohren, unter idealen Bedingungen: „Beim jährlichen Festival in Baden-Baden ist alles zu Gunsten des Dirigenten organisiert, der künstlerisch verantwortlich ist […] aus der Überzeugung heraus, dass man am besten fährt, wenn man den Dirigenten ganz frei agieren lässt […] In der Musik kann man nur auf diese Weise etwas Großes und Schönes erreichen.“

Freiheit in der Kunst für die Künstler! Das Motto war nicht nur um 1850 eine Erfolgsgarantie für die Festivalstadt. Im Festspielhaus lebt es bis heute weiter. So kam Met-Musikdirektor Yannick Nézet-Séguin beim Besuch in Baden-Baden selbst auf die Idee, bei den Sommerfestspielen 2021 Berlioz´ „Symphonie fantastique“ und Auszüge aus der Oper „Les Troyens“ zu spielen. Es lag einfach in der Luft! Dazu bieten Berlioz´ raffiniert instrumentierte und virtuos zu spielende Partituren perfekte Gelegenheit, die Klasse des Orchesters der Metropolitan Opera New York zu zeigen. Unter seinem jungen Chefdirigenten geht es zum ersten Mal seit zwanzig Jahren auf Europatournee. In Deutschland wird es nur in Baden-Baden zu hören sein.

„Les Troyens“, die Oper über den Untergang Trojas und die tragische Liebe zwischen dem Troja-Flüchtling Aeneas und der karthagischen Königin Dido, trieb Berlioz während der ganzen zehn Jahre um, die er sommers in Baden-Baden verbrachte. 1859 stellte er hier zum ersten Mal Auszüge daraus vor. Die Hoffnung, damit ein Signal nach Paris zu senden, zerschlug sich. Dort kam 1863 nur eine verstümmelte Aufführung des riesigen zweiteiligen Werks zustande. Schuld daran ein anderer. Auch er verbrachte wenige, wenn auch schicksalhafte Stunden in Baden-Baden: Richard Wagner. Dessen „Tannhäuser“ hatte die Finanzen der Pariser Opéra ruiniert und die Aufführung der monumentalen „Trojaner“ unmöglich gemacht. Aber das ist eine andere Geschichte.