15.03.21

Sehnsucht nach Freiheit

Teodor Currentzis und die Gefängnis-Geschichten des Chor-Zyklus „Tristia“ von Philippe Hersant

Ein Akkordeon spielt auf, eine Flöte, eine Mundharmonika - es sind die Instrumente der armen Leute. Ein Sprecher erscheint, er liest ein Prosastück von Warlam Schalamow, „Der Pfad“, über Inspiration und Einsamkeit. Verlorene Rufe im Halbdunkel, schwarz gewandete Menschen schreiten aufs Podium. „Es ist eine Folge von Gefängnis-Geschichten, es ist wie ein Mosaik aus verschiedenen Steinen, die am Schluss ein Ganzes ergeben. Die französischen Gefangenen habe ich alle getroffen, von den Russen hatte ich nur die Texte. Aber das Thema ist auf beiden Seiten gleich: Es geht um die Gefängnismonotonie“, sagt Philippe Hersant. Seine 2016 uraufgeführte Komposition feiert zwischen Gregorianik, Pentatonik und chromatischem Farbenspiel immer wieder die Reinheit eines Dur-Dreiklangs, versetzt Wiegenlieder und Walzer, Trink- und Marschlieder mit der Archaik einer leeren Quarte oder Quinte. Zwiegesänge wechseln mit kollektiven Evokationen, donnernde Bässe mit frechen Countertenören und beachtenswerten hohen Sopranen. Bei „Tristia“ geht um Einsamkeit, Monotonie und Düsternis, aber auch über die sehnsüchtige Hoffnung auf Freiheit, als zentrale Botschaft. Der Titel „Tristia“ (Klagelieder) spielt auf Mandelstams gleichnamige Gedichtsammlung von 1922 an. Mandelstams Poeme von Abschied, Schuld, Exil und Liebe beziehen sich wiederum auf die Briefsammlung Tristia, die der römische Dichter Ovid während seiner Verbannung am Schwarzen Meer schrieb. Als zweite wichtige Anregung diente Hersant Dantes Göttliche Komödie aus dem frühen14. Jahrhundert mit der berühmten Darstellung der Höllenkreise – ein Buch, das auch Mandelstam und Schalamow heilig hielten. „Man könnte sagen, dass es auch in Tristia verschiedene Kreise oder Zyklen gibt“, erklärt Hersant, „ein wenig wie in Dantes Hölle.“

Die Aufführung im Festspielhaus Baden-Baden verzichtet auf Kulissen und Kostüme. Im Saal bewegen sich am Samstag, 02.11.2016, 60 Sängerinnen und Sänger des MusicAeterna-Chors unter der Leitung von Teodor Currentzis in einer präzisen Choreografie. Die Arbeit mit Currentzis hat Hersant überwältigt: „Teodor ist ein Genie. Er versteht sofort alles. Das habe ich noch nie erlebt.“