27.11.23

„Mir liegt durchaus an Realismus“

Robert Carsen im Gespräch

Bei der ersten Probe haben Sie gesagt: „Ich möchte Goethe zurück in Massenets Oper bringen.” Welchen Aspekt Goethes vermissen Sie in dem Musikdrama?

Robert Carsen Goethes Novelle ist literarisch in dem besonderen Sinn, dass Werther ausschließlich in Briefen seine Gefühle ausbreitet. So erleben wir Werthers Innenwelt anders, als wenn ein Erzähler für uns beschriebe, was in ihm vorgeht. Wenn ich also sage, mehr Goethe, dann meine ich dieses poetische Bewusstsein. Mir geht es darum, das Schreiben, das Lesen und seine Wirkung präsent zu halten.

Also weniger ein Theater der Nachahmung als ein Theater der Imagination?

RC Es steht mir nicht an, zu sagen, meine Arbeit sei besonders imaginativ. Mir liegt durchaus an Realismus. Was ich vermeiden will ist der szenische Naturalismus des 19. Jahrhunderts, der auf dem Stück lastet. Die ganze französische Bourgeoisierung des Stoffs, die damals wohl von Massenet erwartet wurde: die Kinder, Schmidt und Johann, die Feste, das Trinken, die Kirche. Im Lauf der Oper lässt Massenet all das hinter sich – das Werk fokussiert sich immer stärker auf das eigentliche Drama: Werthers Gefühle und seine komplexe Beziehung zu Charlotte.

Sie haben für Ihre Inszenierung einen besonderen Ort gewählt.

RC Damit möchte ich die Kraft der Literatur und des Wortes reflektieren. Bei der Lektüre eines Buches wandern wir von einem Moment zum nächsten und jeder entdeckt für sich etwas anderes. Um dem szenisch gerecht zu werden, muss ich mich gegen den Naturalismus des Librettos entscheiden. Hinzu kommt: „Werther“ ist ganz wesentlich ein Drama junger Menschen. Für mich war wichtig, dafür eine Umgebung zu finden. Die Veröffentlichung von Goethes „Werther“ löste etwas Erstaunliches aus – eine verstörende Welle von Selbstmorden nach einem Ideal romantischer Liebe, etwas so stark zu fühlen, dass man sein Leben dafür opfert. Das Buch wurde vielerorts verboten, aus Sorge über diese Auswirkungen. Das hat ein Echo in Diskussionen, die wir heute über den Umgang junger Menschen mit Medien führen.

Ist Werther in gewisser Hinsicht bis heute ein Vorbild oder ist uns Charlotte, die zwischen männlichen Ansprüchen zerrissen wird, näher?

RC „Vorbild“ ist in diesem Zusammenhang ein seltsames Wort. Sagen wir so: Beide sprechen etwas in uns an. Das wird jeder auf seine Weise empfinden.

Oft wird gesagt, dass Massenets Musik Charlotte stärkt gegenüber der Novelle.

RC Dass Massenet Entscheidungen treffen musste beim Schritt von der Novelle zur Oper, dass er Dinge, die eine besondere Resonanz in ihm fanden, hervorgehoben und anderes gestrichen hat, ist selbstverständlich.

Seine Musik spiegelt ungeheuer wirkungsvoll die Gefühle Charlottes und Werthers wider – sie ist beinah verschwenderisch in ihrer Leidenschaft. Das wusste man in Deutschland und in Österreich viel früher zu schätzen als in Frankreich. Die Opéra-Comique in Paris hat die Oper abgelehnt. Die Uraufführung fand in Wien statt, in deutscher Sprache. Danach lief das Stück in Weimar, wohin Goethe zog im Jahr, nachdem er den „Werther“ geschrieben hatte. Für mich war es sehr verlockend, „Werther“ in Deutschland auf die Bühne zu bringen – mit Thomas Hengelbrock, mit dem ich mehrmals zusammengearbeitet habe. Ich wusste, hier in Baden-Baden würden wir genug Zeit für die Inszenierung bekommen.

Sie sind sehr offen an die Inszenierung gegangen. Haben Sie in der Probenarbeit überraschende Wendungen erlebt?

RC Als Regisseur bringe ich eine Vorstellung mit. Sobald die Proben beginnen, ist sehr wichtig für mich, dass es sich als echte Zusammenarbeit entwickelt, in die alle Beteiligten ihre Perspektive einbringen. Jeder Probentag bringt Veränderungen, in denen sich das Werk mehr und mehr zu erkennen gibt – unter den Voraussetzungen, die wir dafür schaffen. Die Solistinnen und Solisten der vier Hauptrollen sind großartig – auch darin, mir zu zeigen, was sie fühlen. Damit bleiben wir dicht an diesem Werk, in dem es so viel mehr um Gefühle geht als um das, was wir denken.

Welches Buch lesen Sie gerade?

RC „Lessons“ von Ian McEwan. Wenn ich inszeniere, lese ich gern etwas, das weit von dem Bühnenstoff entfernt ist.

Interview: Wolfgang Müller