16.11.21

Großes Labsal für die Seele

Kirill Petrenko und das russische Repertoire

Immer, wenn ich Rachmaninow dirigiere oder höre, dann ist das für mich ein bisschen Heimat

Kirill Petrenko

„Immer, wenn ich Rachmaninow dirigiere oder höre, dann ist das für mich ein bisschen Heimat“, erklärte Kirill Petrenko im Januar dieses Jahres in einem Gespräch mit Dominik Wollenweber, dem Englischhornisten der Berliner Philharmoniker, das auf der Website der „Digital Concert Hall“ des Orchesters nachzuhören ist. Das Schicksal habe zwar gewollt, dass er früh in die Welt hinausgehen sollte – doch gerade dadurch hätten die Klänge der russischen Romantiker für ihn „eine überdimensionale Bedeutung“.

In Omsk, in Sibirien, wurde Petrenko 1972 geboren. Der Vater war Konzertmeister im örtlichen Sinfonieorchester, die Mutter Dramaturgin. Und so wuchs er spielerisch ins russische Repertoire hinein und sog die Musik von Tschaikowsky und Rachmaninow, von Schostakowitsch und Strawinsky bis hin zu Zeitgenossen wie Rodion Schtschedrin und Sofia Gubaidulina förmlich in sich auf. Die deutschen Komponisten dagegen lernte er erst so richtig kennen, als er mit 18 Jahren nach Österreich übersiedelte: zum Studium, zunächst in Feldkirch, dann in Wien. Mozart, sagt Petrenko rückblickend, sei in der Sowjetunion nie recht ernst genommen worden und habe in den Aufführungen eher nach Tschaikowsky geklungen.

Von seiner tiefen Verwurzelung in der Musikkultur seiner Heimat erhofften sich die Berliner Philharmoniker neue Impulse, als sie Kirill Petrenko zum Chefdirigenten wählten. Und tatsächlich vermochte der für seine akribische Detailarbeit berühmte Maestro ihnen eine neue Sicht auf die Kernwerke des russischen Kanons zu eröffnen. Die gemeinsam erarbeiteten Interpretationen von Tschaikowskys fünfter und sechster Sinfonie wurden zu umjubelten Sternstunden, auf ihrer ersten Tournee durch Deutschland stellten Petrenko und das Orchester bewusst Werke von Strawinsky und Rachmaninow in den Mittelpunkt.

Dass er in der Saison 2021/22 gleich drei Opern von Tschaikowsky dirigieren kann, bezeichnete Kirill Petrenko während einer Pressekonferenz in Berlin als „großes Labsal für meine Seele“. Er brenne förmlich darauf, den Philharmonikern die Schönheiten des verkannten Meisterwerks „Mazeppa“ nahezubringen. Neben „Pique Dame“, zu der Kirill Petrenko, wie er betont, eine besonders enge Beziehung hat, wird er zu Ostern in Baden-Baden auch noch Tschaikowskys letzte, unmittelbar nach „Pique Dame“ komponierte Oper dirigieren: die selten gespielte „Jolanthe“ mit ihrer berührend märchenhaften Geschichte von der blinden Prinzessin, die durch das Wunder der Liebe sehen lernt. Auch Strawinskys klangfarbenprächtige Ballettmusiken haben die Philharmoniker im Rahmen ihres Russlandschwerpunkts im Gepäck: Petrenko dirigiert den „Feuervogel“, Andris Nelsons „Le sacre du printemps“, François- Xavier Roth „Le baiser de la fée“. Chefsache ist selbstverständlich das Konzert mit Starsopranistin Anna Netrebko: Darin wird sich Petrenko einmal mehr für den von ihm verehrten Rachmaninow einsetzen. Es soll noch immer Klassikpuristen geben, die über dessen romantischen Überschwang die Nase rümpfen. Wenn aber der russische Maestro seine Autorität in die Waagschale wirft, wird dieser große Komponist die musikalische Würdigung erfahren, die er verdient hat.

Von Frederik Hanssen