17.05.22

Im Zeichen der Zwillinge

Die Sterne weisen den Weg: Der Pfingsthimmel steht im Zeichen der Zwillinge, benannt nach Castor und Pollux. Dem antiken Bruderpaar widmet sich auch das Konzert am Pfingstsamstag mit Werken von Jean-Philippe Rameau und Esa-Pekka Salonen. Dazu spielt das SWR Symphonieorchester unter der Leitung von Dima Slobodeniouk Beethovens gewaltige dritte Sinfonie, die „Eroica“.

Was ist größer, die Sehnsucht nach ewigem Leben oder die Liebe zu einem Menschen? Der griechische Held Pollux war da eindeutig. Er verzichtete auf die Unsterblichkeit und folgte seinem Bruder ins Reich der Schatten. Esa-Pekka Salonen ließ sich von dem Mythos zu seinem zweiteiligen Orchesterwerk „Gemini“ inspirieren. 2018 entstand zunächst „Pollux“, wobei Salonen während des Kompositionsprozesses auf das Problem stieß, dass sich die Musik „in zwei völlig gegensätzliche Richtungen“ entwickelte. Bald erkannte der Komponist, dass die beiden kontrastierenden Musikidentitäten nicht in einem einsätzigen Stück koexistieren konnten: „Die Lösung war, zwei unabhängige, aber genetisch verbundene Orchesterwerke zu schreiben,“ sagt Salonen.
„Pollux“, langsam und ziemlich dunkel im Ausdruck, ist das erste von ihnen. Das 2018 komponierte Werk schwebt zwischen „wolkenartigen Formationen (wo die Halbgötter wohnen) und klarer definierten Texturen der Orpheus-Musik“. Ein nostalgisches Englischhornsolo beschließt das Stück.
„Castor“ hingegen ist bewegt, laut und extrovertiert. Die Musik gestikuliert wild, oft in extremen Lagen. Zwei Paukenpaare und zwei Basstrommeln bilden das rhythmische Fundament, auf dem sich freiere, ornamentale Linien aufbauen, bevor die Musik – klingendes Symbol für Castors gewaltsamen Tod – in tiefster Lage versinkt; der Schluss zweier unabhängiger, aber genetisch verbundener Orchesterwerke.

Unsterbliche Sternbilder

Als Opernsujets sind antike Mythen von Anfang an populär gewesen, ob Orfeo, Dafne oder Arianna. 1737 fügte Jean-Philippe Rameau der Reihe mit „Castor und Pollux“ ein besonders schönes Exemplar hinzu: er komponierte auf die außergewöhnliche Geschichte der Zwillinge, die nur Halbbrüder sind, seiner zweiten Tragédie lyrique. Schon die Uraufführung 1737 in der Pariser Académie Royale de Musique wurde zu einem wahren Triumphzug. In Rameaus Oper werden durch das Eingreifen Jupiters die beiden Brüder unsterblich und überleben als Sternbild. So wie die Grenze zwischen Tod nicht mehr klar zu ziehen ist, sind es aus heutiger Sicht die Genregrenzen, die Rameau verschwimmen lässt. Wild springt das Werk zwischen Gesang und Tanz hin und her und lotet die Regeln der Bühne neu aus. In dem Konzert am Pfingstsamstag im Festspielhaus spielt das SWR Symphonieorchester ausgewählte Airs und Tänze aus „Castor und Pollux“.

Unendliche Dimensionen

Nicht nur für Ludwig van Beethoven, auch für die Musikgeschichte selbst bricht mit seiner dritten Sinfonie, der „Eroica“, ein neues Kapitel an. Schon die Zeitgenossen staunten über dieses Werk, in dem Beethoven alle bisherigen musikalischen Dimensionen der Sinfonie sprengte. Aber nicht nur das: Für Beethoven war die „Eroica“ weit mehr als nur Musik. Sie war ein Bekenntnis. Ein persönliches, entschiedenes, von den Idealen der Französischen Revolution inspiriertes Bekenntnis zur Freiheit. Erstmals verstand Beethoven eine Musikkomposition als eine Möglichkeit, sich mit dem aktuellen Zeitgeschehen, mit gesellschaftlichen Verhältnissen, mit der Welt auseinanderzusetzen und seine persönliche Haltung dazu durch Musik auszudrücken. Eine Sinfonie als Ideenkunstwerk, als Träger von Botschaften, nicht zuletzt damit setzte Beethoven Maßstäbe. Dass Beethoven die Symphonie ursprünglich Napoleon widmen wollte und dies widerrief, machte das Werk endgültig zum Mythos.

Der russisch-finnische Dirigent Dima Slobodeniouk wird zu den Pfingstfestspielen sein Festspielhaus-Debut geben. Nachdem er 1991 als Sechzehnjähriger nach Finnland übersiedelte, dirigierte er 1999 sein erstes Orchesterkonzert. 2018 debütierte er bereits vor den Berliner Philharmonikern. Er arbeitet mit renommierten Orchestern wie dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Bayerischen Staatsorchester, Gewandhausorchester Leipzig, London Philharmonic Orchestra und London Symphony Orchestra sowie dem Royal Concertgebouw Orchestra zusammen.

Das SWR Symphonieorchester, 2016 aus der Zusammenführung des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR und des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg hervorgegangen, zählt Interpretationsansätze aus der historisch informierten Aufführungspraxis, das klassisch-romantische Kernrepertoire und Musik der Gegenwart zu seinem künstlerischen Profil. Seit 2020 ist das SWR Symphonieorchester das Residenzorchester der Pfingstfestspiele Baden-Baden.

Esa-Pekka Salonen ist eine der aufregendsten Mehrfachbegabungen unserer Zeit: International ist er sowohl als Komponist wie auch als Dirigent gleichermaßen bekannt. Der umtriebige Finne ist aktuell nicht nur Chef des San Francisco Symphony Orchestra und des Philharmonia Orchestra. ‚Nebenbei‘ findet er auch immer wieder Zeit, eindrucksvolle Werke zu schreiben, die in der ganzen Welt von den besten Orchestern aufgeführt werden. Und Salonen hat sich in den vergangenen Jahren einen Ruf als Pionier digitaler Vermittlungsformen und engagierter Festivalgründer erarbeitet.