Geniale Fallhöhe
Was ist das eigentlich: Russische Musik? Zum Programm der Osterfestspiele 2021
Russische Musik steht auf dem Programm der nächstjährigen Osterfestspiele. Viele großartige Werke gruppieren sich um Tschaikowskys „Mazeppa“-Oper, mit der das Festival eröffnet wird. Doch was ist das eigentlich: russische Musik?
Lassen wir einmal die russische Volks- und Kirchenmusik außen vor. Die russische Romantik beginnt mit dem Komponisten Mikhail Glinka, dem Schöpfer der russischen Nationaloper, dessen Kammermusikwerke auch bei unserem Festival erklingen werden. Glinkas Genie bewunderten sie alle. Ansonsten zeichneten sich russische Künstler durch eine kulturelle Lagerbildung aus, die bis heute anhält. Schon damals unterschied man zwischen „echten Russen“ und „Westlern“. Letztere öffneten sich auch europäischen Einflüssen. Die „echten Russen“ hingegen waren von einem urrussischen Wesen überzeugt, das dem Westen überhaupt nicht zu vermitteln wäre. Als Hauptprotagonisten und Gegenspieler galten hierbei Peter Tschaikowsky und Modest Mussorgsky. Während ersterer für Mozart schwärmte, wollte sich letzterer nicht einmal akademisch ausbilden lassen aus Sorge vor westlichen Einflüssen. Ihre komponierenden Zeitgenossen kreisten um diese Genies, wobei sich die Lager nicht wirklich abgrenzten: So war Nikolai Rimsky-Korsakov ursprünglich um Mussorgsky herum aktiv, bis er dann an Tschaikowsky näher rückte und als Musikprofessor Strawinsky und Prokofiev unterrichtete. Genialer Dilettant wie Mussorgsky war auch Alexander Borodin, im „echten Leben“ Chemieprofessor, dem auf seinem Gebiet einige wegweisende Erfindungen gelangen und der nur wenige, dafür hochbedeutende Musikwerke hinterließ, die auch von Tschaikowsky bewundert wurden. Für Mussorgsky selbst war bereits Kammermusik als solche zu westlich, weil zu akademisch. Ihm, dessen Musik deshalb im Festival selbst ausgespart bleiben muss, galt die russische Vergangenheit über alles. Bei Tschaikowsky hingegen dient Historie bloß als Staffage. Dieser Komponist erzählte Allgemeingültiges und kreierte Konstellationen, in denen er sich als homosexueller Mann wiederfinden konnte. Alle seine Werke kreisten um eine unmögliche, unverstandene Liebe. In „Mazeppa“ ist es die zwischen zwei Menschen aus verfeindeten Lagern, einem viel zu alten Mann und einer Frau, die seine Enkelin sein könnte. Antagonistisches, Brüche, die kaum zu kitten sind – sie geben Tschaikowskys Musik ihre existenzielle Wucht und geniale Fallhöhe. Ja, fast scheint es, als würden sie einen Hauptzug der russischen Kultur selbst auf den Punkt bringen.
Stand: 15.03.2021