Es spukt bei Schubert
John Neumeiers neueste Ballettkreation "Ghost Light" kreist um Klavierstücke von Schubert
Nicht nur in Kellern sind bekanntlich Leichen versteckt, sondern auch unter so manchem Biedermeier-Sofa. Jedenfalls kommt einem der Gedanke beim Hören von Schuberts Klaviermusik. Dieser Komponist war der erste, der im großen Stil Klavierstücke komponierte. Also nicht wie in der Wiener Klassik üblich, repräsentative Klaviersonaten, sondern kleine Charakterstücke, die dann so charakteristisch für das gesamte 19. Jahrhundert werden sollten. Die Romantiker haben diese Miniaturen gern in Sammlungen herausgegeben. Der Choreograph John Neumeier verwendet in seinem Ballett „Ghost Light“ vor allem zwei Schubert-Zyklen: die Moments musicaux, Op. 94 (D.780) und vier Impromptus, Op. 90 (D.899).
Wobei die Bezeichnung „Miniatur“ speziell bei diesem Komponisten in die Irre führt. Schuberts Charakterstücke können manchmal recht lang werden. Und selbst wenn sie kurz sind, geht es in ihnen oft um Größe. Manchmal scheint sich die Musik improvisierend selbst zu vergessen. Dann ähneln die kurzen Stücke kleinen Öffnungen durch die man Gewaltiges wahrnimmt: Gipfel und Abgründe, Wassermassen, Geistertänze, den Tod; die „Leichen unter den Biedermeier-Sofas“. Im ersten Impromptu Op. 90 irrt wieder einmal der Schubertsche Wanderer. Dazwischen wieder Gemütliches: dieser neue, scheinbar harmlos private Biedermeier-Ton, der die musikalische Romantik einleitet und dem man nie ganz trauen sollte. Franz Schubert war der erste schwarze Romantiker, also ein Künstler, der die Angst, den Wahn, das Verzweifelt-Sein an der Welt in Musik fasste. Seine Klavierstücke verhalten sich wie kleine Lichter, die in Nächten flackern – es war wohl diese Qualität, die den Hamburger Choreographen zu seinem neuen Ballett inspirierte.
Stand: 15.03.2021