23.02.24

Einfach vielseitig

Regisseur Philipp Stölzl

Kein Bonbonpapier-Rascheln ist das – hier wird ein Taschentuch ausgepackt. In der letzten halben Stunde kommt das häufiger vor: Hans Christian Andersen und sein Jugendfreund Edvard Collin begegnen sich zum letzten Mal. Eine auf ewig unglückliche Liebe – Collin flüchtet sich vor dem Dichter in die Hetero-Ehe. Normen siegen über Neigung. Ein Wintermärchen für Erwachsene, und im Münchner Residenztheater kullert manche Träne. „Andersens Erzählungen“ hat Philipp Stölzl schon einmal am Theater Basel herausgebracht, auch in München sind die Vorstellungen schnell ausverkauft. Für den Regisseur ist es ein Herzensstück. „Es ist eine Synthese der Interessen und Erfahrungen, die ich in den letzten 20 Jahren machen durfte, weil einfach alles zusammenkommt: Musiktheater, Schauspiel, und alles wurde auch noch selbst entwickelt.“

Gesprochen knapp zwei Wochen vor der Premiere. Stölzl hat gerade Lichtprobe im Residenztheater und sitzt am Regiepult. Knappe, unaufgeregte Anweisungen. Ob der 56-Jährige unter Stress jemals laut werden kann? Der Gazevorhang schimmert tiefseebläulich, phosphoreszierende Fische werden dahinter von den Assistenten hochgehalten. Aus dem Bühnendunkel schält sich Andersens hell erleuchtete Kutsche. Ein Traum, in jeglicher Hinsicht. Endlich kann Genrehopper Stölzl also alles verbinden. Fassen lässt sich der Mann nämlich nicht: Kino („Nordwand“), Schauspiel („Frankenstein“), Musikvideos (Madonna), Oper. Und das Rezept bleibt immer gleich: Gefühle, Sinnlichkeit, Geschichten und, ja – Unterhaltung. Ein Cocktail, der für die Jünger des Thesentheaters und des Konzeptüberschusses bitter bis giftig schmeckt. „Ich mag es grundsätzlich, wenn alles populär ist“, sagt der gebürtige Münchner. „Je weniger Elfenbeinturm, desto besser.“ Eine Metaebene der Metaebene, das ist von Stölzl nicht zu haben. „Ich muss meinen Sohn reinsetzen können, auf dass der alles sofort versteht.“

Oper hat Philipp Stölzl erstmals 2005 riskiert. In Meiningen, ausgerechnet mit dem so gut wie uninszenierbaren „Freischütz“. Als Mixtur aus Schwarz-Weiß-Grusel und Bizarrhumor à la Edgar-Wallace-Filme wurde das Stück aufgerollt – ein fulminantes Debüt. Schon zwei Jahre später bescherte er mit „Benvenuto Cellini“ von Berlioz den Salzburger Festspielen einen mehr als opulenten Abend – und wurde teilweise dafür gescholten. Auch bei anderen Musiktheatereinsätzen denkt der Regisseur gern groß. Dann wieder, wie bei Wagners „Rienzi“, geht er beherzt mit der Schere an die Partitur. Der Sechsstünder der Originalfassung wurde an der Deutschen Oper Berlin auf einen schlanken Zweieinhalbstünder gestutzt. Ergebnis war ein satirischer Quickie über den Faschismus. Zu gern würde Stölzl auch aus dem „Parsifal“ manch längliche Gurnemanz-Einlassung herausoperieren oder den „Ring“ auf einen Abend zusammenschnurren lassen. Allein: Die Wagner-Welt ist noch nicht so weit.

Überhaupt hat Stölzl Wagner erst einmal beiseitegelegt. Die „Elektra“ fürs Festspielhaus Baden-Baden ist in jeglicher Hinsicht Neuland für ihn, er nennt es lächelnd „einen guten, krassen Einstieg ins 20. Jahrhundert“. Das extrem Komprimierte des Stücks, so viel zum Thema Kürzungen, reizt ihn. „Sie ist immer eine kathartische Erfahrung – wie einmal durchgewalkt zu werden.“ Naturgemäß darf er nichts über die Konzeption verraten. Man sieht es Stölzl an, wie er am langen Tisch im Besprechungsraum des Residenztheaters („Sieht aus wie bei Putin“) mühevoll Details für sich behält. „Etwas sehr Neues“ kündigt er an. „Wenn das aufgeht, wird man ,Elektra‘ hoffentlich anders wahrnehmen.“ Gereizt am Baden-Badener Projekt hat ihn außerdem die musikalische Fraktion. „Ich hatte immer davon geträumt, einmal mit Kirill Petrenko arbeiten zu dürfen. Ein großartiger Dirigent und ein neugieriger, sehr am Theater interessierter Künstler. Also habe ich sofort zugesagt.“ Und wenn Stölzl mit der „Elektra“ das Entree fürs 20. Jahrhundert einmal geschafft hat, gibt es da noch Anschlusspläne: Korngold, John Adams, besonders Bergs „Wozzeck“.

Eigentlich kommt Philipp Stölzl vom Bühnenbild. Als Assistent an den Münchner Kammerspielen hatte er vor allem mit Jürgen Rose zu tun. Mit jenem legendären, heute 86-jährigen Ausstatter, der seinerzeit für ein Stück Stoff schon mal nach Italien reiste. Oder seinen Eleven einen mühevoll geschnitzten, gedrechselten, gepolsterten, bezogenen Bühnenstuhl vorwurfsvoll zurückgab, weil die Farben nicht ganz passten. Ein Detailwahnwitz, den Stölzl heute nicht missen mag. Eine harte Schule, die einem Kinomann, der Monate vorher alles für die Drehtage organisiert haben muss, nur zugutekommt. „Das Gegenteil von Improvisation“ liege ihm. Was nicht heißt, dass er mit einem vor genauen Anweisungen strotzenden Regiebuch zur Probe kommt. „Es ist überhaupt nicht meins, wenn Sänger wissen wollen: Wo stehe ich? Wo gehe ich hin?“ Die gemeinsame Entwicklung einer Figur ist für den Regisseur wichtiger als eine genau festgelegte Opernchoreografie.

Dass er, der Liebhaber großer Dimensionen, irgendwann in Bregenz landen würde, war nur logisch. 2019 bescherte er den Festspielen mit Verdis „Rigoletto“ einen Coup. Ein totales Theater, schon vor Beginn zog eine Banda mit Gauklern über den Vorplatz. Die Seebühne wurde dominiert von einem riesigen Clownskopf und zwei Händen, eine hielt einen Fesselballon. Eine Szenerie mit ikonografischer Kraft. Auf keine andere Produktion, sagt Stölzl, habe er sich so lange vorbereitet. Die Probenmonate am Bodensee habe er enorm genossen. Auch, weil er endlich aus dem fensterlosen Theater hinaus und unter – im besten Fall – Vorarlberger Sonne arbeiten durfte. „Ich weiß nicht, was danach noch kommen soll“, sagte er damals im persönlichen Gespräch. Bekanntlich steht fest: ein weiterer Bregenzer Einsatz, ausgerechnet mit dem „Freischütz“, seinem Opernerstling. Dass die dortigen Festspiele explizit mit seinem Namen werben, erfüllt den Regisseur mit einer Mischung aus Stolz und Amüsement. Was bedeutet: Nicht nur in Bregenz ist Philipp Stölzl eine Marke. Weil er Augenfutter bietet, seine Produktionen aber nie an den Effekt verrät. Vielleicht ist er auch deshalb so gefragt, weil das Regiependel gerade in die andere Richtung ausschlägt. Weg vom Aktualisierungsdruck, weg vom Wahn, dem im Grunde schmalen Repertoire verzweifelt das Noch-nie-Gezeigte abzutrotzen. Auch die Coronajahre könnten da eine Rolle gespielt haben, das Theater muss sich dem Publikum stärker entgegenstrecken. Nicht nur dank seiner Kinoerfahrung hat Stölzl längst verinnerlicht, dass der Gedanke an Nachfrage und Sehverhalten nichts Verwerfliches ist – im Gegenteil. Stölzl also als ein Mann der Stunde? „Ich versuche einfach, sinnlich und emotional zu erzählen. Eine starke Visualität, in welcher Form auch immer, gehört für mich zur Oper.“ An der Fabel sei er interessiert und „an der Glaubwürdigkeit der Figuren“.

Das funktioniert, man hat es in Bregenz erlebt, in der extremen Vergrößerung vor 7.000 Zuschauerinnen und Zuschauern. Aber auch im vergleichsweise intimen Münchner Residenztheater, wo knapp 900 einen Rücksturz in die Kindheit erleben und sich von einem wahren Märchen ergreifen lassen. Ein typischer Stölzl-Abend erfasst das Publikum auf der ersten, emotionalen Ebene – und doch gibt es da Tieferes, auch Dunkles. Das „Bedienen“ des Publikums lehnt der Regisseur ab. Reines Unterhaltungstheater ist mit ihm nicht zu haben. „Dafür gibt es andere Genres wie den Friedrichstadtpalast – was nichts Negatives ist.“ Bevor er sich ans Werk mache, befrage er seinen „inneren Instinkt“. Erst neulich habe er gelesen, dass Zuschauerinnen und Zuschauer vom Theater Emotion und Illusion erwarten. „Das finde ich einen schönen Zweiklang. Ich will gerührt sein. Ich will eine Figur auf einer emotionalen Reise begleiten. Deswegen ist Theater auch so unersetzlich: weil einem auf der Bühne echte Menschen begegnen.“

von Markus Thiel