06.06.25

Die Kunst der Freiheit

31. Mai 2025: Rede von Prof. Dr. Stephan Mösch zur Eröffnung der Pierre Boulez gewidmeten Pfingstfestspiele im Festspielhaus Baden-Baden

Sehr verehrte Damen und Herren,

was Sie jetzt erwartet, ist im formalen Sinn eine Festrede, weil wir heute ein Fest für Pierre Boulez feiern. 

Allerdings war Pierre Boulez kein Freund von Festreden. Er liebte den Diskurs, die mitunter scharfe Auseinandersetzung, in seinen frühen Jahren auch die Provokation. In seinen späten Jahren war es immer wieder erstaunlich, wie er auf scheinbar provokante Fragen oder Thesen mit großer Gelassenheit reagierte – ich sage bewusst nicht Abgeklärtheit – mit einer Gelassenheit, die gewissermaßen durch die Provokation hindurch gegangen war, sie als Gegenstand größerer Denk- und Wahrnehmungszusammenhänge verinnerlicht hatte.

 

Festreden, Boulez wusste das, tendieren dazu, dass sie die Leere, die festlichen Jubiläen schnell anhaften kann, mit etwas füllen, das allen gefällt. Und genau das war die Sache von Boulez nicht. Er war da ein Bruder im Geiste von einem anderen mit dieser Stadt verbundenen Komponisten, von Hector Berlioz.

Diese Festrede, dass müssen Sie wissen, war schon geplant, als noch das Orchesterkonzert für heute Abend anstand. Sie ist also kein Lückenbüßer. Damals wie heute hat mir das Team vom Festspielhaus 12 Minuten zugestanden, wahrscheinlich weil diese Zahl bei den Notations von Boulez eine entscheidende Rolle spielt und weil die 12 in der Musik und insbesondere in der Musik des 20. Jahrhunderts ein magische Zahl ist. Ich habe versprochen, mich an diese Magie zu halten und nur bis maximal 15 Minuten Redezeit zu überziehen.

In einer Viertelstunde über Boulez zu sprechen, ist allerdings fast eine Art Himmelfahrtskommando. Die bislang wichtigste Boulez-Monographie in deutscher Sprache erschien 2017 und umfasst 830 Druckseiten, sie stammt von Martin Zenck. Bernd Künzig von SWR Kultur hatte immerhin eine ganze, wunderbare Musikstunden-Woche Zeit für Boulez, das waren 5 Stunden Sendezeit.

Ich kann also nur ein paar Zusammenhänge andeuten. Vielleicht auch: ein paar Denkanstöße geben. Und damit läuft die Zeit…

Das Thema dieses Festes ist zugleich mein Thema: »Die Kunst der Freiheit«. Was meint das mit Blick auf Pierre Boulez?

In gewisser Weise haben wir das gerade schon bei der Klaviersonate Nr. 1 gehört. Sie klingt ja heute so frisch wie am ersten Tag. Boulez war 21 Jahre alt, und in diesem Stück ist viel drin, was ihn sein ganzes Leben beschäftigt hat: Musik zwischen Improvisation und Struktur, zwischen logischer Notwendigkeit und Phantasie, zwischen individuellem Ausdrucksbedürfnis und einer bewusst gesetzten Fremdheit. Musik also als Erfahrungsraum eigener Art. Eine Ekstatik der Verdichtung steckt darin. Das Ganze ist keineswegs voraussetzungslos, aber doch neu in Anspruch und Haltung, auch sehr spezifisch in dem Spiel mit Orientierungsverlust, mit Erfahrungsresten und einer kühlen, aber durchaus verbindlichen Sinnlichkeit. 

Pierre Boulez, so können wir zunächst ganz allgemein sagen, ist einer, der Widersprüche bewusst auslebt, einer, der sich nicht glattbügeln lässt von Erwartungshaltungen, oder der selber aktiv glattbügelt mit einmal gewonnen Ansichten und Einsichten. Die Kunst der Freiheit, das heißt auch: Da ist einer, der bereit ist, die Last der Verantwortung von Kunst tragen – in vielfältigen Aufgaben und Berufen.

Wie sagt der Philosoph Jaques Derrida?  »Die Verantwortung beginnt genau dann, wenn man keine Gewissheit mehr hat.« Ich denke, gerade wenn es um Kunst geht, ist das ein wichtiger Satz, eine Richtschnur.

Pierre Boulez hat sich selbst einfach als »Musiker« bezeichnet. Das trifft es insofern, als dieser Mann mit simplen Dichotomien nicht einzufangen ist, auch nicht mit der Addition seiner Tätigkeiten. Viele von Ihnen werden ihn als Dirigent erlebt haben, und sie werden mir zustimmen, dass es in den guten, den gelungenen Aufführungen vollkommen egal war, ob ein dirigierender Komponist oder ein komponierender Dirigent am Pult stand. Wichtig war, dass da jemand in die Musik hineinhörte und Dinge aus ihr heraus hörte, und zwar so, dass plötzlich eine Klarheit des Komplexen deutlich wurde und dass umgekehrt das scheinbar Klare durchaus komplex erscheinen konnte.

Was den Dirigenten Boulez betrifft, dem man natürlich einen eigenen Vortrag widmen müsste, möchte ich heute nur daran erinnern, dass er nicht weniger, sondern vielleicht sogar dauerhafter mit Darmstadt und Donaueschingen (den Zentren Neuer Musik in den 50er und 60er Jahren) zu tun hat, als der Komponist, der dort seinen Durchbruch erlebte. Gewiss hat sich Boulez das Dirigieren weitgehend selbst beigebracht, für seine Konzertreihe »Domaine Musicale« in Paris. Was ihn aber als Dirigent berühmt gemacht hat, war ein Wandel der Interpretationsästhetik. Boulez übertrug das Objektivitätsdenken des Serialismus in den Bereich der Interpretation und machte es dort in bis dahin ungewohnter Weise fruchtbar. 

Nach diesem Verständnis besteht die Hauptaufgabe des Dirigenten darin, musikalische Zeitstrukturen zu vermitteln. Über die Zeit hatte Boulez schon als Student in der Klasse von Olivier Messiaen intensiv nachgedacht. Nun, wo er sich mit Bruno Maderna die Dirigierkurse in Darmstadt teilte, ging es darum, den Klang in seinen funktionalen Aufgaben wahrnehmbar, erlebbar zu machen – als Teil eines musikalischen Sinnzusammenhangs. Das war durchaus etwas Anderes als das über-expressive Dirigieren, das noch einen Anton Webern auszeichnete, und es ist der Grund, warum die Aufführungen von Boulez markant anders ausfielen als die älterer Dirigenten wie Hermann Scherchen oder Hans Rosbaud, die sich durchaus auch an Idealen wie Sachlichkeit und Fasslichkeit orientierten.

Es war – um eine Formulierung des italienischen Musikforschers Gianmario Borio zu übertragen – die »Garantie eines ästhetischen Abstands«, für die Boulez radikaler sorgte als seine Vorgänger. Nicht nur als Dirigent.

Natürlich war das berühmte »Schönberg est mort« von 1952 Signal einer Selbstsuche und keine musikhistorische Diagnose. Und natürlich ging es auch um die Suche nach Aufmerksamkeit. Glenn Gould war wütend. Eduard Steuermann, der zentrale Pianist der Schönberg-Schule, schrieb wütend an Adorno. Boulez hatte, was er wollte. Schönberg musste kurz nach seinem Ableben noch einmal für tot erklärt werden, damit die Lebendigkeit derjenigen hervortreten konnte, auf deren Schultern sich Zukunft für Boulez viel eher gestalten ließ: Webern, auch Debussy, Varese – unter anderen. 

Aber kommen wir zu unserer Leitlinie zurück. Kunst und Freiheit lassen sich ja nicht addieren. Die Freiheit der künstlerischen Entscheidung kann eine enorme Last sein, und sie führt erst dann zu einer von Freiheit getragenen Kunst, wenn sie – um es mit Lieblingsvokabeln von Boulez zu sagen – zwischen System und Idee oder auch zwischen Ordnung und Chaos ein wie auch immer geartetes Verhältnis findet. Ich sage nicht: eine Balance, aber doch eine vollzogene und nachvollziehbare Relation. 

Freiheit und Kunst gehen, wie Wolfgang Rihm einmal gesagt hat, auseinander hervor. Freiheit ist mit Blick auf Kunst eine sehr komplexe Angelegenheit. Rihm sprach sogar von einer »Heimsuchung« durch Freiheit beim Künstler, er sprach von den Opfern, die eine Freiheit an Kunst-Setzungen erfordert, bis dahin, dass der künstlerische Schaffensprozess »eine Form des Freiheitsentzugs« sein kann. 

Die Freiheit der Kunst kann man einfordern, die Kunst der Freiheit kann man nur ausleben.

Es mag banal klingen, aber es bleibt als Herausforderung enorm: Wie im politischen Gemeinwesen, ist Freiheit auch in der Kunst nicht voraussetzungslos und auch nicht automatisch von Dauer. Sie ist etwas, das als Gegenwart ständig zwischen Vergangenheit und Zukunft errungen werden muss. In der Kunst hat sie, ein letztes Mal mit Wolfgang Rihm formuliert, mit »tief gelehrter Ahnungsfähigkeit zu tun«.

Eine solche »tief gelehrte Ahnungsfähigkeit« hat Pierre Boulez zweifellos angetrieben (weit mehr als elitäre Dauerreflexion, die ihm oft unterstellt wurde). 

Sie ist eine Triebfeder, die sich in allen seinen Tätigkeiten findet. Einige seiner Pariser Vorträge sind 1989 erstmals erschienen [erst elf Jahre später auf Deutsch]. Da sieht man, was diese »tief gelehrte Ahnungsfähigkeit« bei ihm bedeutete. Wenige Sätze, mitunter ein Wort reicht, um Türen zur Geschichte zu öffnen, die »Kunst der Fuge« wird ebenso selbstverständlich einbezogen wie die Kunst der Renaissance oder der »Tristan-Akkord«, die Malerei als Kunstform ebenso wie ihre Beziehung zur Tonkunst, oder das Wesen der schöpferischen Gestaltung. Dieses tief Gelehrte verbindet ihn übrigens mit Helmut Lachenmann, der in diesem Jahr seinen 90. Geburtstag feiert und der sich intensiv mit Boulez beschäftigte und die Objekthaftigkeit von dessen Musik ebenso hervorgehoben hat wie den »ins Unbekannte spekulierenden Geist«, der dahintersteckt.

 

Man versteht durch die Pariser Vorträge, in wiefern Maler und Dichter bei Boulez als Katalysatoren einer Kunst der Freiheit gewirkt haben. René Char und Paul Klee, natürlich auch Mallarmé nehmen dabei eine zentrale Rolle ein. Boulez konnte sich Strawinsky nicht ohne Picasso denken, Debussy nicht ohne Cézanne, Webern nicht ohne Mondrian. Nicht zufällig hingen Werke von Klee, Cocteau, Bacon oder Miró in seinem Haus hier gleich nebenan in der Kapuzinerstraße. Er sammelte nicht einfach Kunst. Er dachte als Künstler interdisziplinär. So kam es, dass er eine Platte mit Frank Zappa aufnahm, mit dem er sich einig war in der Bewunderung für Varèse.

»Ahnungsfähigkeit«, das gilt auch für den Mentor und Manager Boulez, der irgendwann gespürt haben muss, dass eine Institution wie das IRCAM fehlte, weltweit fehlte. 

 

Das IRCAM, später die beispiellose Cité de la Musique, das Ensemble Intercontemporain: 

Das sind Beispiele auch für diese »Ahnungsfähigkeit«, über die Boulez eben nicht nur im abstrakten Sinn verfügte, sondern auch dann, wenn es konkret um das Verhältnis von Kunst und Institution ging, um Kunst und ihre Umsetzung und, ja, auch das: um Kunst und Macht. Es ist kein Zufall, dass das Bayreuther Festspielhaus auf ihn stets eine große Anziehungskraft hatte.  (Spannweite dort von Wieland Wagner 1966 über den berühmten Ring mit Chéreau bis zur Arbeit mit Schlingensief am Parsifal 2004/2005).

Das IRCAM führt uns zu den Tiefenschichten des Komponisten Boulez. Ich will nicht auf Répons hinaus, jenes Stück, das am IRCAM entwickelt wurde, und durch das sich das IRCAM sozusagen legitimieren musste. Anders als Gustav Mahler, dessen Werke er wunderbar dirigiert hat, anders als Alban Berg, dessen dreiaktige Lulu er uraufführte, anders als Luciano Berio oder Bernd Alois Zimmermann, die sich mit ähnlichen Fragen der Kompositionsästhetik herumschlugen, hielt Boulez als Komponist nicht viel von Stilmischungen, oder Stilschichtungen, von welthaltigen klanglichen Interpolationen oder Mixturen. 

Deshalb konnte er auch mit der Offenheit der sogenannten Postmoderne wenig anfangen. 

Das sei doch »trauriger Spaziergang auf einem Friedhof« meinte er einmal. Er sah darin auch Faulheit und Müdigkeit, man sollte sich nicht mit Collagen zufriedengeben, sagte er.  Er forderte, wie von sich selbst, »Strenge und Kraft«. 

Eine Reihe von Kollegen schlug zurück. Zum 70. Geburtstag von Boulez erschien 1995 ein Sonderband der Reihe Musik-Konzepte und darin ein Aufsatz von Claus-Steffen Mahnkopf, der durchaus eine Richtung insbesondere der deutschen Boulez-Rezeption wiedergab. Da ist mit einem vergifteten Lob von »virtuose[r] Materialbeherrschung serieller Kalkulatorik« die Rede, von einer »keimfreie[n] Logizität«. Boulez sei ein »Genie des musikalischen Immanentismus«. Das Urteil lautet: »Der Mensch kommt nicht vor«; »Boulez fehlt das Leben«.

Lassen wir das als inzwischen historischen Diskurs so stehen. Aber nutzen wir die Frage, die sich aufdrängt: Könnte es sein, dass Boulez gerade wegen einer gewissen Scheu vor den Farben der Welthaltigkeit, wegen seiner tiefen Bewunderung für die Form der Kunst und Kunst als Form, auch wegen seiner steten Suche nach dem Klang an sich (eben nicht dem Klang als Assoziation, Zitat oder Vermittlungsinstanz), könnte es sein, dass er deswegen das IRCAM erfand? Auch, um persönliche Grenzen zu erweitern, zu sprengen? Als ich mit der großen finnischen Komponistin Kaija Saariaho über das IRCAM sprach, an dem sie viele Jahre gearbeitet hat, machte sie solche Inhalte stark, ohne dass der Bezug zu Boulez nötig gewesen wäre. Komposition als Klangerkundung der Gegenwart und für die Gegenwart. Komposition in diesem Sinn als Klangbewusstsein. Das ermöglicht das IRCAM bis heute. [[Und zwar bei aller Freiheit, durchaus nicht einfach als Spielwiese, sondern mit dem Anspruch von »Strenge und Kraft«, wie Boulez meinte und wie Saariaho ihn auf ihre Weise umsetzte.]] 

Boulez war niemand, der einen Gewissheitsüberschuss vor sich hertrug, eher jemand, bei dem Suche und Entschiedenheit sich nicht ausschlossen. Er hat – keine Frage – suchend komponiert, dirigiert, geschrieben. Die grelle Polemik früher Jahre ist oft nur eine Maske. Sie gehörte zur Kunst der Freiheit, wie er sie verstand, mitunter sogar in ihrer speziellen Form der Respektlosigkeit. Man könnte sagen: Die Kunst als angewandte Freiheit, oder auch: die Freiheit als Optionsraum für einen Wahrnehmungswandel.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte heute, wo wir seinen 100. Geburtstag feiern, dafür plädieren, Boulez als Künstler der Uneindeutigkeit, ja der Widersprüche wahrzunehmen. Als einen, der sich sehr viel schwerer eingemeinden lässt, als er scheint und als es vielfach geschehen ist. 

Boulez hat ja darüber gespottet, dass ihm die wenigen Semester, die er einmal Mathematik studiert hatte, ewig als Grundlage seiner Ästhetik ausgelegt wurden, und er hat noch mit über 80 Jahren betont, der Serialismus sein ein »Tunnel von zwei Jahren« gewesen, allerdings ein notwendiger Tunnel.

Boulez war niemand, an dem sich altbackene Dualismen zwischen Ausdruck/Subjektivität auf der einen Seite und Präzision/Objektivität auf der anderen Seite festmachen lassen. Hören Sie die Aufnahmen von Schönbergs Erwartung oder Bergs Lulu mit Noten, dann werden Sie das Perfektionsideal schnell vergessen. Michael Gielen war da viel genauer. Boulez konnte durchaus ein emotionaler Dirigent sein, einer des Laissez faire, so wie umgekehrt sein Vorgänger beim New York Philharmonic, Leonard Bernstein, sich oft streng an den kompositorischen Strukturen orientierte.

Boulez hat Artaud noch live erlebt und schätzte dessen Theater der Grausamkeit, besser: der Wildheit, der Nicht-Narrativität, der undomestizierten antiklassischen Wucht. Artaud zittert ja in seiner 2. Klaviersonate nach. Und doch brachte derselbe Boulez Wolfgang Amadeus Mozart mit Anmut und Grazie in Verbindung, fast so, als sähe er in ihm den apollinischen Wunderknaben und Götterliebling, den bestimmte Traditionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aus Mozart gemacht haben. Es war die Flexibilität der Form, die Boulez bei Mozart bewunderte. 

Und noch ein Beispiel für das Heterodoxe bei Boulez, für das auf vitale Weise zugleich Logische und Unberechenbare:

Boulez bewunderte Debussy als ersten Komponisten, der Klang als substanziellen Bestandteil der Musik begriff. Klang hier als Plural verstanden. Er bewunderte in diesem Sinn schon früh auch Karol Szymanowski. Und er schätzte, dass Farbe bei Richard Wagner keine Zutat war, sondern aus der Satztechnik entstand. Doch war Farbe ohne Struktur für Boulez so sinnlos wie Struktur ohne Farbe. Es führt daher kein Weg von Boulez zu Richard Strauss. Aber auch, das ist wenig bekannt, kein Weg zur großen »Turangalȋla«-Symphonie, einem Hauptwerk seines Lehrers Olivier Messiaen, das an Klangfarben kaum zu überbieten ist. Boulez hat dieses Stück nie dirigiert.

Ein letztes Beispiel. Boulez hatte für vertonte Literatur, insbesondere in der Oper, etwa bei Hans Werne Henze, nur Verachtung übrig. Trotzdem ließ er sich sein Leben lang von literarischen Texten inspirieren. Ich haben einige Dichter genannt. Die menschliche Stimme war für ihn bedeutsam jenseits der Semantik, jenseits der Linearität, jenseits von klar umrissenen Figuren. Pli selon pli heißt eines seiner Schlüsselwerke, das, wie der Titel sagt, als Entfaltung angelegt ist, als – wenn man so will – unsichtbare, imaginäre Szene, als Erweiterung der Wahrnehmung. Die Wucherung (prolifération) war ein Lieblingsbegriff von Boulez, lange bevor Gilles Deleuze und Félix Guattari den Begriff das Rhizoms in die Geisteswissenschaft einführten.

In diesem Sinn erforschte Boulez die Nähe und Ferne zwischen Sprachklang und Instrumentalklang und auch Möglichkeiten der Elektronik. Eine Brücke zu Luigi Nono, auch wenn dessen Musik weit poröser ist gegenüber klingender, auch politischer Welthaltigkeit. Wenn Nono mit Hölderlin von der »schwachen messianischen Kraft« spricht, so gilt das in gewisser Weise auch für Boulez. Ich sage das gerade deshalb, weil es dem verbreiten Bild des »Machers«, des Kunstfürsten und des kühlen Rationalisten Boulez widerspricht.

Ja, es stimmt: Als Berlin und dort insbesondere sein Freund Daniel Barenboim ihm zu einem runden Geburtstag ein große Festtages-Sause ausrichteten, die etwas von Overkill hatte, da schieb der »Tagesspiegel« genervt:

»Zielsicher wie Karajan hat Boulez sein Imperium aufgebaut« (A. Dümling). Das war sicher übertrieben, aber ganz falsch war es auch nicht.

Es stimmt aber auch, und auch das gehört zur Zielsicherheit von Boulez: 

Wenn man das berühmte Spiegel-Gespräch von 1967 heute liest, für das Boulez angeblich eine Nacht in einem Basler Gefängnis arretiert wurde, weil er angeblich dazu aufgerufen hatte, die Opernhäuser in die Luft zu sprengen, dann stellt am fest, dass der Kontext alles andere als polemisch ist, sondern eine Diagnose. Und dass Boulez mit seinen drei Punkten richtig lag:

1) Der Repertoirebetrieb ließ (und lässt bis heute) Regie im avancierten Sinn verkommen.

2) Dass es damals keine zeitgenössische Oper gab, die musikalisch auf dem Stand der Avantgarde war, ist eine Zuspitzung, die zumindest Zimmermanns Soldaten unterschlägt (UA 1965),  aber es ist in Hinblick auf die Stimm- und Sprachbehandlung der Avantgarde eine unverkennbare Tendenz. Stücke wie Henzes Der junge Lord oder Die Bassariden (UA 1965 und 1966) gehören gewissermaßen zum Feindbild.

3) Die tradierte Vorstellung vom Libretto war obsolet geworden. Das Theater eines Artaud, Genet, Beckett, Pinter, zu dem auch musikdramaturgische Konzeptionen gehörten, zu nutzen gelang erst später. Und es gelang Boulez selbst nur in Ansätzen (Orestie mit Heiner Müller 1994, Musik zum Bühnenstück schon 1955). 

Ein Theater aus Klang und Schweigen, ein Theater aus Klang und Raum, ein Theater ohne die Repräsentanz in sich geschlossener Figuren.

Vielleicht haben das ja andere Komponistinnen und Komponisten seitdem erledigt?

Ich nenne nur:

  • Adriana Hölszky, die Genets Wände 1995 in Wien (mit Hans Neuenfels) herausgebracht hat,
  • Wolfgang Rihms intensive Auseinandersetzung mit Artaud,

oder

  • György Kurtag, der Becketts Fin de Partie auf die Musikbühne holte (2024 in Dortmund dt. EA, nominiert für den Faust-Preis).

Ein letzter Schwenk:

Die Entstehung des Bayreuther Ring von 1976 kann man heute anhand von Dokumenten im Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung in Bayreuth nachvollziehen. Ein Krimi, ein eigener Vortrag. Chéreau war bekanntlich dritte Wahl. »Ist es das, wir erhofft haben?«, fragte Wolfgang Wagner noch in einer späten Phase, als sich das Ruder gerade noch hätte herumreißen lassen. Es war eine verzweiflungsvoll und auch verantwortungsvoll gestellte Frage. Das 100. Jubiläum bedeutete extremen Druck. Was genau Chéreau konnte und worauf er hinaus wollte, das zeichnete sich lange nicht ab.  Boulez haute den Knoten durch. Er schrieb auf Englisch und auf den Briefpapier des New York Philharmonic, das er damals leitete. Dieser alles entscheidende Brief ist ein Musterbeispiel in Sachen Deeskalation. Boulez benannte und diskutierte offen alle Probleme. Wie immer knapp und präzise. Und er schrieb trotzdem zum Schluss einen persönlichen Satz: »I support very strongly this vision. Mit diesem Satz an dieser Stelle war der Bann gebrochen, und ein Stück Theatergeschichte konnte beginnen. Erst die Deeskalation, für die Boulez im Vorfeld sorgte, machte die notwendige Eskalation möglich, zu der die Aufführung bei der Premiere führte.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.

Was können wir heute lernen von Pierre Boulez?

Er fordert heraus, und er forderte oft bedingungslos.

Gerade heute, wo es immer heißt, man müsse »die Leute« (wer ist das eigentlich?) abholen, wo die Musik quasi mundgerecht gemacht werden soll, genießbar.

Das Festspielhaus Baden Baden setzt mit diesen Pfingstfestspielen ein wichtiges, ein mutiges Signal. Und der SWR ist vielfältig beteiligt.

Boulez, den wir heute feiern, ist keine historische Person. Er ist da, weil seine Forderungen unabgegolten sind, weil seine mediale Vielseitigkeit, seine Metierkenntnis bis heute ein kreativer Anstoß sein können – wenn man sie lässt. Er ist da, weil seine Maßlosigkeit uns aufrütteln kann aus mancher Bequemlichkeit und Gefälligkeit.

Boulez konnte als Mensch überaus konziliant sein. Als Künstler in seiner Selbstverpflichtung war er rigoros, oft erratisch, meist unerbittlich. 

Musik, das sagt uns das ganze Lebenswerk von Boulez, ist keine akustische Wellness-Erfahrung. Sie ist aber auch keine bloße Willensbekundung. Sie ist als ästhetische Erfahrung eine »Widerfahrnis« (Phänomenologie, Waldenfels) und gewinnt daraus ihre Wahrhaftigkeit. In diesem Sinn hat Pierre Boulez sie wahrgenommen und vermittelt. In diesem Sinn bleibt er lebendig. Nicht nur heute Abend.

Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit!

© Prof. Dr. Stephan Mösch