Die Frau ohne Schatten
Was die Oper erzählt
Ein Klosterschlafsaal am Abend. Die Nonnen löschen das Licht, die Mädchen kommen zur Ruhe. Auf sich selbst zurückgeworfen, verarbeitet eines von ihnen die Erlebnisse seines Alltags. Zwischen Wachen und Schlafen vermengen sie sich mit Ur-Erzählungen vom Frausein – einem Märchen, das von Mutterschaft, weiblicher Ohnmacht und Selbstermächtigung erzählt.
1. Aufzug
Die Hüterin der Kaiserin wird vom himmlischen Boten des allmächtigen Keikobad ermahnt: Trägt ihr Schützling endlich ein Kind unter dem Herzen? Wirft sie endlich jenen Schatten, der sie als Mensch und Mutter ausweist? Nur dann wird ihr Mann dem Fluch entgehen, den er auf sich geladen hat, als er sie erjagte und zu seiner Frau machte. Denn noch ist die Kaiserin kein Menschenwesen. Als Kind des Geisterkönigs ist sie durchscheinend, künstlich, fühllos wie kostbares Glas. Nach erfüllter Liebesnacht bricht der Kaiser auf. Er trauert um seinen roten Jagdfalken, den er verstieß, nachdem er ihm vor einem Jahr die Kaiserin gewann. Übermütig hatte sie sich in eine weiße Gazelle verwandelt und als Jagdbeute stellen lassen. Die Kaiserin entdeckt den Falken und erinnert sich an den Fluch ihres Vaters: Wer es wagt, ihren Gürtel zu lösen, muss sie binnen eines Jahres durch Schwangerschaft zu seinesgleichen machen. Sonst muss er versteinern. Die Kaiserin will ihren Liebsten nicht verlieren: Ihre Amme, Geisterwesen wie sie, soll ihr den Schatten verschaffen, den sie braucht, um Mutter zu werden. Dazu brechen die beiden in die amoralische Menschenwelt auf. Dort werde sich eine eitle Frau finden, die bereit ist, auf Nachkommen zu verzichten und Schatten wie Mutterschaft an die Kaiserin abzutreten. Der ältliche Färber und seine junge Frau stecken in einer Ehekrise. Ihr gehen die drei Brüder ihres Mannes ebenso auf die Nerven wie seine Fixierung aufs Kinderkriegen. Dreieinhalb Jahre sind sie verheiratet und haben noch immer keinen Nachwuchs. Die Färberin entscheidet, dass dies so bleiben soll. Kaiserin und Amme wittern ihre Chance. Mit allerlei Zauberspuk verführen sie die Färberin. Sie versprechen ihr ewige Schönheit, Jugend und Macht – ein schöner junger Mann werde sie begehren, wenn sie sich in drei Tagen auf ewig von Schatten und Mutterschaft lossagt. Bis dahin wollen die beiden ihr als Dienerinnen alle Arbeit abnehmen. Plötzlich sind Stimmen ungeborener Kinder zu hören, die beklagen, dass ihnen der Eintritt ins Leben verweigert wird. Doch die Färberin bleibt hart. Sie verweist ihren Mann des ehelichen Bettes. Von Ferne klingen Mahnungen heran: Sinn der Ehe sei, Nachkommen zu zeugen und die eigenen Vorfahren mit der Zukunft zu verbinden.
2. Aufzug
Die Amme zaubert ein magisches Rendezvous für die Färberin hervor. Doch der ist die Sache nicht geheuer. Auch die Kaiserin ist irritiert. Sie spürt, dass die Rückkehr des Färbers bevorsteht: Er hat gut verkauft und bringt reichlich Essen mit, begleitet von einer Horde Kindern. Die Färberin, eben noch voller Sehnsucht nach ihrem Mann, lässt ihrer Wut freien Lauf. Vom Falken geführt entdeckt der Kaiser, dass seine Frau verschwunden ist. Er rast vor Eifersucht, will sie töten – und vermag es nicht. Die Amme verabreicht dem Färber einen Schlaftrunk. Erneut begegnet die Färberin dem herbeigezauberten Jüngling. Im letzten Augenblick weckt sie ihren Mann. Doch was er sagt, stößt sie so sehr ab, dass sie mit der Amme aus dem Haus flieht. Die Kaiserin träumt von ihrer Schuld gegenüber dem Färber und von ihrem Mann, der in einem Felsengrab versteinert. Die Färberin eröffnet ihrem Mann, dass sie ihn betrogen hat, niemals Mutter werden wird und schon Käufer für ihren Schatten hat. Der Färber gerät in Wut. Seine Brüder entdecken, dass sich der Schatten bereits von der Färberin gelöst hat. Die Amme fordert die Kaiserin auf, ihn sich zu nehmen, doch die Kaiserin will nicht: Blut klebe an ihm! Als der Färber sich zum Richter über seine Frau aufschwingt, gesteht diese, dass sie ihn gar nicht betrogen hat. Trotzdem erwartet sie Strafe und will getötet werden. Ihre Welt versinkt im Chaos.
3. Aufzug
Ort und Zeit der Märchenwelt haben sich aufgelöst. An ihre Stelle tritt mit aller Härte die Klosterrealität. Färberin und Färber suchen einander vergeblich. Amme und Kaiserin treiben in einem Kahn durchs Nichts. Die Kaiserin findet ein Tor. Sie will die direkte Konfrontation mit dem allmächtigen Vater. Die Amme warnt sie vor dem Wasser des Lebens, das Geisterwesen sterblich mache. Daraufhin verstößt die Kaiserin die Amme: Sie will menschlich werden. Die Amme wird von Keikobads Bote bestraft, als sie nach ihm ruft. Der Kaiserin fordert den allmächtigen Vater auf, ihr ihren Platz in der Welt zu zeigen, begegnet jedoch nur weiteren dienenden Geistern: Sie soll vom Wasser des Lebens trinken, damit Schatten und Kinder der Färberin ihre werden. Die Kaiserin will sich nicht am Färberpaar schuldig machen. Sie will, dass ihr Vater erscheine und über sie richte. Stattdessen erscheint ihr der versteinerte Kaiser: Sobald sie trinke, sei er erlöst! Allein, die Kaiserin vertraut ihrem Herzen mehr als dem, was des allmächtigen Vaters Boten und Botinnen ihr einflüstern. Sie sagt: „Ich – will – nicht!“ Sie wirft einen Schatten, der Kaiser erwacht aus seiner Versteinerung. Stimmen ihrer ungeborenen Kinder umschweben das Paar. Ihr Jubel vereint sich mit dem von Färberin und Färber und deren ungeborenen Kindern. Der Jubel will schier kein Ende nehmen in einer Märchenwelt, die sich vollkommen von der Realität gelöst hat.
Mark Schachtsiek
The Woman without a shadow
The story of the operaA convent sleeping quarters in the evening. The nuns turn off the light and the girls quiet down. Left to their own devices, one of them mulls over the experiences of her life. As she drifts in and out sleep, her thoughts mingle with primal narratives of womanhood – a fairy tale about motherhood, female powerlessness, and self-empowerment.
Act I
The Empress's guardian is admonished by the heavenly messenger of the almighty Keikobad: is her protégée at last carrying a child? Does she already cast the shadow that identifies her as a human and a mother? Only then will her husband escape the curse that he took upon himself when he caught her and made her his wife. For the Empress is not yet a human. As a child of the spirit king, she is translucent, artificial, emotionless like precious glass. After a night of love, the Emperor sets out. He mourns his red hunting falcon, which he turned away after the latter captured the Empress for him a year ago. In a high-spirited mood, she had transformed herself into a white gazelle and exposed herself as prey. The Empress discovers the falcon and remembers her father's curse: whoever dares to loosen her belt must, by making her pregnant, turn her into one of his own kind within a year. If not, he will turn to stone. The Empress does not want to lose her beloved. She tasks her nurse, a spirit creature like herself, to help her acquire the shadow she needs in order to become a mother. For this purpose the two set out into the amoral human world. There they are sure to find a vain woman who is willing to renounce children and to give up both her shadow and motherhood to the Empress. The elderly dyer and his young wife are in the midst of a marital crisis. Her husband’s fixation on having children and his obnoxious three brothers are getting on her nerves. They have been married for three and a half years and still have no offspring. The dyer’s wife decides that she wants this to remain so. The Empress and nurse sense their opportunity. They entice the dyer’s wife with all manner of magic spells and promise her eternal beauty, youth, and power. A handsome young man will desire her – provided that she renounces her shadow and motherhood forever in three days’ time. Until then, the two of them offer to take over all her work responsibilities as her servants. Suddenly, voices of unborn children are heard lamenting that they are denied entry into the world. But the dyer’s wife remains firm. She kicks her husband out of the conjugal bed. Admonitions ring out from afar: the purpose of marriage is to bear offspring and connect one’s own ancestors with the future.
Act II
The nurse conjures up a magical rendezvous for the dyer’s wife. But this only makes her feel uneasy. The Empress is indignant. She senses that the dyer will be returning soon; he has done good business and is bringing home plenty of food, accompanied by a crowd of children. The dyer’s wife, who was full of longing for her husband a moment ago, gives vent to her anger. Led by the falcon, the Emperor discovers that his wife has disappeared. He rages with jealousy and wants to kill her – and can't. The nurse gives the dyer a sleeping potion. Once more the dyer’s wife encounters the conjured young man. At the last moment, she wakes up her husband. But what he says revolts her so much that she flees the house with the nurse. Dreaming, the Empress contemplates her guilt towards the dyer and envisions her husband turning to stone in a cave. The dyer’s wife tells her husband that she has cheated on him, will never become a mother, and has already found buyers for her shadow. The dyer flies into a rage. His brothers discover that the dyer’s wife’s shadow has already detached itself from her. The nurse urges the Empress to take it, but the Empress doesn’t want to: there is blood stuck to it! When the dyer starts pronouncing judgement on his wife, she confesses that she has not cheated on him at all. Nonetheless, she still awaits punishment and wants to be killed. Her world descends into chaos.
Act III
Time and place of the fairytale-world have dissipated. The harsh realities of life return. The dyer’s wife and dyer seek each other in vain. The nurse and the Empress drift through the void in a boat. The Empress finds a gate. She hopes for a direct confrontation with her almighty father. The nurse warns her of the water of life that renders spirits mortal. Wanting to become human she disowns the nurse. In despair, the nurse calls upon Keikobad’s name and is punished by his messenger. The Empress demands that her almighty father find her a place where she fits in the world, but only encounters other serving spirits: she is to drink of the water of life, through which the dyer’s wife’s shadow and children will become hers. The Empress does not want to be guilty of wrongdoing toward the dyer couple. She wants her father to appear and judge her. Instead, the petrified Emperor appears before her: as soon as she drinks, he will be set free! But the Empress trusts her heart more than what her almighty father’s messengers are whispering to her. She says, “I – don’t – want to!” She casts a shadow and the Emperor awakens, set free from the stone. Voices of the couple’s unborn children hover around them. Their exultation is united with that of the dyer’s wife and dyer and their unborn children. The euphoria is seemingly never-ending in this fairy-tale world that has completely detached itself from reality.
Mark Schachtsiek, translated by Aaron Epstein