23.01.23

Den Dancefloor beflügelt

Unzählige Sounds, ein Instrument: Die Grandbrothers machen elektronische Musik auf dem Konzertflügel. Mit Mikros, elektromagnetischen Hämmern, Computern und – natürlich! – zehn Fingern plus Pedal bearbeiten sie das Instrument, auf dem schon Franz Liszt zum Popstar wurde, so lange, bis es dancefloortauglich ist. Dass sie den Flügel nicht zum bloßen „Impulsgeber“ herabstutzen und ihm seinen Charakter lassen, ist sicher ein Grund, warum sie so viel Erfolg haben. Der andere ist der Raum für Improvisation – und eine gewisse Märklin-Mentalität. Damit haben sie nicht nur im Land der Tüftler und Denker Erfolg. In Frankreich sind sie über die Filmmusik zu Stars geworden. Bevor die Grandbrothers das Takeover Festival im Festspielhaus Baden-Baden eröffnen, war der Musikjournalist Götz Bühler mit ihnen verabredet.

Bei den Grandbrothers lernt das wohlpräparierte Klavier tanzen. Der Musikjournalist Götz Bühler traf die beiden zum Gespräch.

Grandios mögen sie sein, Brüder sind sie höchstens im Geiste: Der Bandname Grandbrothers bezieht sich unmittelbar auf den Flügel, auf Englisch eben Grand Piano, den Erol Sarp und Lukas Vogel als Ausgangsbasis für ihre Musik akustisch bespielen und elektronisch bearbeiten. Seit elf Jahren kommt bei ihnen „jeder einzelne Sound, den man hört, von derselben Quelle: dem Flügel“, wie sie selbst auf ihrer Website erklären. Das Resultat? Die französische Zeitung „Libération“ lobte: „Die Kompositionen erinnern sowohl an Aphex Twin als auch an Erik Satie.“ Damit erreichen die Grandbrothers mit ihren mittlerweile drei Studioalben nicht nur zweistellige Millionenstreams und feiern Erfolge in französischen Filmmusiken, sondern faszinieren vor allem live – inzwischen eher in größeren Konzerthallen – wie jetzt, im Februar 2023 zur Eröffnung des Festivals Takeover im Festspielhaus Baden-Baden.

Die Einstiegsfrage zu diesem Interview, ob die Grandbrothers gemeinsam oder remote an ihrer Musik arbeiten, erübrigt sich. Links auf dem Meeting-Bildschirm sitzt Lukas Vogel neben einem Flügel, auf der rechten Hälfte Erol Sarp vor einem Pianino. Dabei ist Letzterer der Pianist des Duos, Vogel der Produzent und Elektroniker. „Wir haben uns zwar beim Studium in Düsseldorf kennengelernt“, meint Sarp. „Aber eigentlich leben wir seitdem in unterschiedlichen Städten und arbeiten jeder für sich an der Musik – momentan Lukas in Zürich und ich in Berlin. Und bei mir ist leider beim besten Willen kein Platz für einen Flügel.“

Das war anfangs anders. Ganz konkret beschäftigten sich der Pianist und der elektronische Produzent und Tüftler mit den noch unerschlossenen Klangwelten des Klaviers. „Ich habe mich schon immer sehr für Technik interessiert, Software entwickelt und Synthesizer gebaut“, meint Vogel. „Also bin ich in den Baumarkt gegangen und habe aus Nähmaschinenteilen und Türschnappern die ersten Hämmerchen gebaut, mit denen ich direkt in Erols Flügel eingreifen und Sounds erzeugen konnte. Erst später habe ich herausgefunden, dass es diese sogenannten Solenoids auch fertig zu kaufen gibt.“

Nicht nur der ursprüngliche Ansatz der Grandbrothers, das Klavier mechanisch zu bearbeiten – etwa das Holz des Klangkörpers für Beat-Sounds anzuschlagen und diese zu samplen, zu loopen und zu verfremden – ist über die Jahre gleichgeblieben. Auch ihr Set Up, die Platzierung eines Tisches voller Technik direkt neben dem Flügel, hat sich wenig verändert. „Wenn es einen visuellen Aspekt unserer Auftritte gibt“, sagt Lukas Vogel, „dann hat der eher mit gezielt gesetztem Licht zu tun und der Tatsache, dass man eher merkt als sieht, was unsere vier Hände machen.“ Wie spannend das aussehen kann, erkennt man etwa bei einer arte-Video-Session aus einem retro-futuristischen Siebzigerjahre-Schwimmbad bei Paris. „Wir haben es auch mal mit Projektionen probiert, aber das hat eher abgelenkt. Jetzt ist es eben so: Erol sitzt am Flügel, ich stehe hinter meinen Rechnern, Synthesizern und Loop-Maschinen. Da bleibt nur bedingt Raum für Bewegung. Die Stimmung macht eher die Licht-Situation.“

Dass sich die Musik der Grandbrothers trotzdem ganz direkt auf das Publikum überträgt, liegt wohl auch daran, dass sie ihre Sets dem Spielort angleichen. „Natürlich ist es etwas anderes, ob wir im Kölner Dom oder in einem Club spielen“, erklärt Erol Sarp. „Und auch die Tatsache, dass das Publikum im einen eher still zuhört und beim anderen meistens steht und sich bewegt, macht etwas aus.“ „Wir sind schon nach Konzerten in größeren Sälen von Zuhörerinnen angesprochen worden, die meinten, sie wären ja gerne aufgestanden, aber sie hätten sich nicht getraut“, ergänzt Lukas Vogel. „Uns wäre es nur recht, wenn das Publikum auch im Festspielhaus aufsteht, wenn es das möchte.“

„Kopfkino“ heißt gleich die erste Playlist eines großen Streaminganbieters, die im Zusammenhang mit den Grandbrothers empfohlen wird. Ihre minimalistischen Instrumentals, die rhythmische Dynamik, die an- und abschwellenden Flächen und das auf die Tanzbeine abzielende Rein und Raus der Beats, die treibenden Basslines und dieser große, weite Sound an sich – da bleibt viel Raum für emotionale Interpretation, ein idealer Soundtrack für die persönlichen Gedanken- und Bilderwelten.

Von da ist es nur ein kleiner, logischer Schritt nach Hollywood. Oder zumindest ins französische Kino. Vor drei Jahren wurde „Bloodflow“ der Grandbrothers zum Titeltrack von „Hors Normes“, zu Deutsch „Alles außer gewöhnlich“, dem Abschlussfilm der Festspiele in Cannes 2019, gedreht vom Erfolgsteam hinter „Ziemlich beste Freunde“. „Seitdem spielen wir in Paris in ganz anderen Venues und vor einem immer größeren Publikum“, freut sich Erol Sarp. „Momentan arbeiten wir an einem Soundtrack für eine neue Serie.“ Streng geheim, versteht sich.

Die elektroakustische, gerne minimal technoide Instrumentalmusik unserer Zeit, ob von Nils Frahm, Francesco Tristano, Hauschka oder eben auch den Grandbrothers, wird häufig als Neoklassik bezeichnet. „Wir haben nichts gegen den Begriff“, sagt Erol Sarp, ohne mit der Wimper zu zucken. „Wenn Leute eine gewisse Musik mögen und sie beim Laufen oder meinetwegen auch beim Arbeiten hören, hat sie ja auch eine Berechtigung. Ich finde vieles eher langweilig, was unter dem Begriff erscheint. Aber allein schon durch den Flügel wird man natürlich schnell auch in diese Verbindung gebracht.“

In den Live-Sets der Grandbrothers gibt es auch ein Element der Improvisation, manchmal sogar der gegenseitigen Überraschung, aber „grundsätzlich haben wir schon eine klare Setlist“, wie Lukas Vogel sagt. „Eigentlich probieren wir keine Stücke, an denen wir gerade arbeiten, im Konzert aus“, ergänzt er. „Obwohl – das stimmt eigentlich nicht: ,Bloodflowʽ haben wir zum ersten Mal live gespielt, als es eigentlich noch nicht fertig war und auch noch kein Arrangement stand. Zumindest dachten wir, es wäre noch nicht fertig. Hätten wir es erst für ein Album produziert, wären wir schon verkopfter herangegangen und hätten noch mehr in Sachen Arrangement gemacht. Dass der Track so relativ einfach geblieben ist, verdankt er sicher auch der Tatsache, dass wir ihn schon so früh live gespielt haben.“ Er lacht. „Vielleicht sollten wir das öfter so machen.“