15.03.21

Den Amadeus tanzen

Teodor Currentzis interpretiert Wolfgang Amadeus Mozart. Die Spannung steigt!

Anmerkungen zu Teodor Currentzis als Mozart-Interpret von Alexander Dick.

Im Jahr 1984 polarisierte ein Kinofilm die Klassikwelt. Der tschechisch-amerikanische Regisseur Miloš Forman skizzierte in „Amadeus“ einen Wolfgang Amadeus Mozart, der sich so ganz von den tradierten Vorstellungen unterschied. Tom Hulce verkörperte den Komponisten als schräge, infantile, clowneske Figur mit durchaus bösartigen Zügen. Ein Denkmal fiel vom Sockel.

Das grenzte für manche an Majestätsbeleidigung. Mal abgesehen davon, dass Forman diese Figur so nicht neu erfand – der Film basiert auf Peter Shaffers gleichnamigem Bühnenstück –, die Musikwissenschaft hatte längst mit einer vielschichtigeren Aufarbeitung des Rätsels Mozart begonnen, an der ausgerechnet der biographische Essay (1977) eines Multitalents wie Wolfgang Hildesheimer im deutschsprachigen Raum großen Anteil hatte. Ungeachtet der Frage historischer Genauigkeit, geschweige denn Richtigkeit, veränderte sich nach Hildesheimer, Shaffer und Forman in der Gesellschaft das Mozart-Bild. Aus dem göttlichen Melodiker und von den Zeitgenossen nur verkannten Genie wurde eine weit radikalere, modernere Künstlerfigur, deren Leben nicht von ungefähr mit dem Ende des Ancien Régime durch die Französische Revolution einherging. In das süße Mozart-Kugel-Image mischte sich plötzlich ein bitterer Beigeschmack.

Unermüdlicher Kampf

Was diese Darstellung hier unterschlägt, ist der unermüdliche Kampf der Praktiker – der Dirigenten und Interpreten wie Nikolaus Harnoncourt oder Gustav Leonhardt – um eine „historisch informierte Aufführungspraxis“ seit den 1960er Jahren. Deren Studium der Handschriften führte, flankiert von erbitterten Auseinandersetzungen, zu Interpretationsansätzen, die Lichtjahre entfernt von dem seit der Romantik nivellierten Mozart-Klang waren. „Heute, nachdem man diese Tonsprache in mehreren Generationen abgeflacht, glattgebügelt, versüßt und harmonisiert hat, in einer Weise, die man aus den Partituren der Werke nicht erklären kann, heute erschrickt man wieder, genau wie zu Mozarts Zeit, wenn einem da und dort seine Werke in ihrer schon fast unbekannten Urgestalt begegnen“, notierte Nikolaus Harnoncourt in einem 1999 erschienen Essay.

Beides – die breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Künstlerfigur Mozart und mit seinen Partituren – hat einen Künstlertypus, wie ihn Teodor Currentzis darstellt, erst ermöglicht. Wer den Hype, der um den 47-jährigen griechisch-russischen Dirigenten mitunter gemacht wird, verfolgt, muss ein wenig an die Amadeus-Figur in Formans Film denken. Alles ist Nonkonformismus, nichts erinnert an das tradierte Bild des Dirigenten, und doch – oder gerade deshalb – verstrahlt dieser Exzentriker so viel Charisma. Das freilich würde nur bedingt funktionieren, hätte Currentzis musikalisch nichts zu sagen. Wer ihn live auf dem Podium erlebt hat, ganz gleich ob mit Bruckner, Mahler oder Schostakowitsch, wird immer mit dem Eindruck nach Hause gehen, Zeuge eines einmaligen Ereignisses gewesen zu sein. Selbst Werke, die man wirklich in- und auswendig zu kennen glaubt, entfalten eine neue, bislang so nicht gekannte Aura.

Radikale Unterschiede

Und das gilt in besonderem Maße für die Beziehung Currentzis-Mozart. Vielleicht hat das etwas mit der Biographie des Dirigenten zu tun. Eine einschneidende Begegnung für ihn war die mit seinem Dirigierlehrer Ilya Musin in St. Petersburg. Musin hatte Currentzis in seinem Ausdruck geprägt: „Er verstand es, die Körpersprache eines jeden Einzelnen individuell weiterzuentwickeln“, erklärte er in einem Gespräch mit dem Autor 2011: Und zwar die eigene, denn: „Man kann nicht die eines anderen imitieren.“ Currentzis muss das besonders beherzigt haben. Sein Dirigierstil unterscheidet sich radikal von jedem anderen. Nicht, dass er gänzlich auf den Taktstock verzichtet – das tun viele andere auch. Bei Currentzis ist Dirigieren Ausdruck des gesamten Körpers und erinnert nicht von ungefähr an Elemente des Tanzes. Expressivität im Klang generiert bei ihm, stärker als bei den meisten seiner Kollegen, die Geste. Klang und Geste – sie sind eine Einheit in Currentzis‘ musikalischem Auftritt. Dass dieser nicht allein vom Intellekt getragen ist, signalisiert ein anderes, das seine Nähe zu Mozart noch mehr erklärt: Currentzis liebt Volksmusik –echte Volkmusik. „Volksmusikanten können Geschichten erzählen, akademische Musik nicht“, sagt er. Es sei der „größte Fehler unserer Kultur, dass kaum noch gesungen, musiziert und getanzt“ werde. Weshalb er in eben jenem Gespräch für einen anderen Zugang zur klassischen Musik plädiert: „A little bit more naive…“

Spätestens in dem Moment denkt man wieder an Milos Formans „Amadeus“-Fiktion. Der Mozart dieses Films ist ein Naivling, ein kapitaler sogar. Ein Meister im Überzeichnen, in der Kunst der Selbstdarstellung. Da mag es Parallelen zum Currentzis-Bild geben, gleichwohl: Sie führten auf die falsche Fährte. Denn was der Dirigent mit dem „Ein klein wenig naiver“ meint, ist der unverbrauchte Zugang zur Musik. Das impliziert bei ihm aber auch grundsätzlich noch etwas anderes: Radikalität. Teodor Currentzis‘ Mozart-Interpretation loten die Extreme aus. Ob in punkto Dynamik, Tempo oder Artikulation. Kein Pianissimo, das nicht noch leiser ginge, kein Fortissimo, das nicht zu steigern wäre, kein Presto, das sich nicht, um einen fiktiven Superlativ-Terminus der Musikwissenschaftlerin Grete Wehmeyer zu zitieren, in ein „Prestißißimo“ verwandeln ließe.

Wer Currentzis‘ konzertanten Zyklus der drei Da-Ponte-Mozart-Opern im vergangenen Festivalsommer oder auf Platte erlebt hat, wird das bestätigen können. Zum Beispiel die Ouvertüre – Sinfonia – zu „Le nozze di Figaro“: Die sich umspielenden Achtelketten des Presto entfachen bei ihm und seinem Ensemble musicAeterna vom ersten Takt an ein Fanal. Der dunkle Colla-parte-Klang der Fagotte und Streicher versprüht eine Vorahnung dessen, was die Revolution (vorerst nicht in Österreich) in diesem Zeitalter umstürzen wird. Und wenn nach den zärtlicheren Oboen-, Flöten- und Klarinettenläufen die Musik ihr erstes Fortissimo erlebt, dann ist das bei Currentzis eine Explosion. Es poltert, knarzt und fetzt in der Partitur – was für ein „toller Tag“, um mit Beaumarchais‘ Vorlage zum Libretto zu sprechen. Currentzis beherrscht aber auch die Klaviatur der Empfindsamkeit bis ins Extrem. Die beiden Arien der Gräfin zeugen davon, oder jene Dorabellas und Fiordiligis in „Così fan tutte“ etwa. Da spürt man, wie angelegen es dem Interpreten Currentzis auch ist, die versteckten musikalischen Botschaften herauszuarbeiten. Etwa jene, die zeigen, mit welchen Figuren der Komponist besonders sympathisiert – Fiordiligi zum Beispiel.

Expressivität in der Kontur

Currentzis‘ Mozart hat plastische Präsenz. Das hat viel mit seiner Betonung und Verstärkung rhythmischer Akzente zu tun. Auch Streicherbögen können bei ihm zu Schlaginstrumenten werden, die Kontraste von Melodie und Rhythmus arbeitet er scharf heraus. Das alles heißt indes nicht, dass Currentzis nur Extreme gegeneinander setzt. Sein Salzburger „Idomeneo“ im Sommer 2019 ist klanglich durch und durch aufwühlend. Und trotzdem geht es ihm am Pult hier des Freiburger Barockorchesters nicht um Rekorde. Das Tempo in der Ouvertüre etwa ist durchaus moderat – hier vollzieht sich das Expressive in der Herausarbeitung der Konturen, aber auch in der nicht zu überbietenden Präzision.

All das ist das Ergebnis intensiver, oft harter Arbeit. Es ist ja nicht so, dass Currentzis‘ Performance auf dem Moment der Aufführung basiert – auch wenn es nicht auszuschließen ist, dass die Intensität seines Auftritts bei den Musikerinnen und Musikern zusätzliche Energieschübe freisetzt. Wer den Proben des Dirigenten beiwohnt, erlebt einen ganz anderen Teodor Currentzis. Da ist wenig von der expressiven Körpersprache – was zählt, ist Effektivität und Ökonomie der Mittel. Musiker rühmen seine Liebe zum Detail, ohne sich im Detail zu verlieren. Die Dichte und Konzentration im Probenprozess ist zum Greifen spürbar. Bei den Proben zu „Idomeneo“ zum Beispiel konnte man erleben, wie Currentzis einerseits das von ihm gepriesene Musikantische fordert, dann aber bei entscheidenden Details den Finger in die „Wunde“ legt. Wenn er längere Passagen am Stück durchspielen lässt, macht er sich penibel Notizen zu all dem, was er anders haben möchte. Und wenn es sein muss, lässt er ein paar Takte auch schier unendlich wiederholen – bis der Klang generiert wird, den er haben möchte. All das vollzieht sich aber in einer Atmosphäre des konstruktiven Miteinanders; auch dann, wenn Currentzis erklärt, bleibt er sachlich, freundlich, empathisch. Denn seine Erkenntnis vermittelt der Dirigent mit seinen eindringlichen Blicken und Gesten Ausführenden wie Zuhörern gleichermaßen. Musikalische Interpretation ist kein Egotrip, sie ist immer das Ergebnis eines gemeinschaftlichen Prozesses, an dem alle ihren Anteil haben. Fast überflüssig hinzuzufügen, dass ihm die Rolle des Gesangs ein ebenso zentrales Anliegen ist. Teodor Currentzis gehört nicht zu jenen Dirigenten, bei denen das Interesse an der Musik oberhalb des Orchestergrabens nur noch bedingt vorhanden ist.

„Wenn Sie in meine Konzerte kommen, werden Sie immer etwas finden, was Sie nicht erwartet haben“, sagte Currentzis bei seinem Amtsantritt als Chefdirigent des fusionierten SWR Symphonieorchesters zu Journalisten. Und fügte hinzu: „Aber ich sage Ihnen nicht, warum.“ Im Grunde hat dieser Satz exakt die gleiche Gültigkeit, was Wolfgang Amadeus Mozarts Musik anlangt. Und weil das große Wunder Mozart Generationen von Musikfreunden so fasziniert hat, verbindet sich mit ihm das kleine Wunder Currentzis vielleicht so treffend. Und das ist dann, jenseits aller visuellen Begleitumstände wie Outfit, Kleidung, Gestik, letztlich eine ganz intime Sache, die allein unsere Ohren etwas angeht.

Alexander Dick


Stand: 15.03.2021