18.07.22

Das Wunder von Baden-Baden

Interview mit John Neumeier

Im Gespräch mit Jörn Rieckhoff gibt John Neumeier schon vorab Einblicke in die Entstehung und das Konzept seines Tanzfestivals „The World of John Neumeier“. Baden-Baden mit seinen zahlreichen Kulturstätten spielt für ihn eine ganz besondere Rolle dabei, Tanz neu zu entdecken und zu gestalten. Ohne dem Pessimismus zu verfallen, ist auch auf kulturpolitischer Ebene viel geboten, schließlich sind die Werke des Festivals in den turbulenten vergangenen Jahren entstanden.

Die letzten beiden Jahre seit Ausbruch der Corona-Pandemie waren eine schwierige Zeit für den Kulturbetrieb. Woher nehmen Sie den Mut, in dieser Situation ein eigenes Festival neu zu begründen?

Das Wunder von Baden-Baden ist: Trotz Corona haben wir wie zuvor jedes Jahr im Herbst dort auftreten können. Es war ein wunderbares Zeichen, dass wir schon im Oktober 2020 mit „Ghost Light“ Tournee-Aufführungen vor Livepublikum anbieten konnten.

Allerdings wurde die Idee, ein John-Neumeier-Festival in Baden-Baden anzusiedeln, erst möglich durch die Einladung von Festspielhaus-Intendant Benedikt Stampa. Für mich war es ein neuer, auch attraktiver Gedanke. Ich habe mich immer dafür interessiert, verschiedene Sichtweisen zu einem Thema zu entwickeln. Im Tanz, zum Beispiel, besteht die Chance, mit einem solchen Festival in verschiedenen Spielstätten unterschiedliche Tänzergenerationen zu zeigen. Ich kann ein Museum für zeitgenössische Kunst zum Auftrittsort von ganz jungen Tänzerinnen und Tänzern mit ihren eigenen Choreografien werden lassen. Auch möchte ich in einem kleineren Rahmen älteren Tänzerinnen und Tänzern, die nicht mehr in großen Balletten auftreten, eine Plattform geben. Hier können sie ihre eigenen Projekte realisieren, die nur auf dieser besonderen Stufe ihrer Entwicklung denkbar sind.

Das ist „mein“ Thema für das neue Festival: verschiedene Sichtweisen aus verschiedenen Generationen auf das zu erproben, was Tanz und Ballett heute ausmachen können.

Man muss hinzufügen, dass ich mich als Direktor eines neuen Festivals nicht benehmen kann wie ein Kind in einem Süßwarengeschäft. Ich könnte zwar jede Compagnie einladen – beispielsweise von der Mailänder Scala, der Pariser Oper oder das Royal Ballet aus London –, aber nicht alle gleichzeitig und zusammen mit dem Hamburg Ballett. Das gibt mein Budget nicht her. Das aber muss kein Nachteil sein, denn ich empfinde mich eher als Gärtner. Ich bin weit mehr daran interessiert, neue Gartenanlagen zu zeigen als große Sträuße aus teuren Blumenläden.

Als Choreograf können Sie auf eine mehr als fünf Jahrzehnte umfassende Weltkarriere zurückblicken. Mit dem Hamburg Ballett, aber auch als Gastkünstler sind Sie in allen bedeutenden Theatern der Welt aufgetreten. Weshalb entsteht Ihr neues Festival in Baden-Baden – und nicht etwa in Ihrem Heimatland, den USA, oder in Japan?

Bei dieser Frage muss ich an Hans Werner Henze denken. Ich war in Frankfurt ein sehr erfolgreicher, junger Choreograf, als ich eine Einladung nach Hamburg erhielt. Henze hat gesagt: Geh nicht nach Hamburg, lass die Menschen zu dir nach Frankfurt kommen.

Baden-Baden schätze ich als einen Ort, an dem man sich auf die Kunst und die Aufführungen konzentriert. Für mich stehen hier Konzentration und Kreativität im Vordergrund. Das Publikum kommt, aber mit wenig Ablenkungen!

Die Stadt hat ihren Stellenwert in der Kunst, in der Kultur – sie hat sogar eine Verbindung zu Vaslaw Nijinsky. Aber anders als es in Bayreuth oder Glyndebourne der Fall wäre, fühle ich mich nicht von der Tradition eingeengt. Hier in Baden-Baden hat mein Festival die Möglichkeit, sein eigenes Profil zu entwickeln.

Jenseits des Festspielhauses – welche weiteren Aufführungsorte sind für Sie in Baden-Baden denkbar?

Das Theater Baden-Baden ist ein Juwel. Es fördert die Konzentration auch auf kleinere Ballette. Daher freue ich mich sehr, mein neues Werk „Die Unsichtbaren“ dort im Herbst hinzubringen. Der Raum hat eine besondere Intimität.

Die Akademiebühne Baden-Baden, wo das Bundesjugendballett im letzten Jahr erstmals aufgetreten ist, hat von sich aus eine gewisse Flexibilität – eine Anregung, in neuen Räumen zu denken. Das war mir schon immer wichtig und geht zurück auf meine Anfänge im Teatro Maria an der Marquette University, wo wir als Studenten ein Theater mit Sitzplätzen auf allen Seiten der Bühne betrieben.

Darüber hinaus liebe ich das Museum Frieder Burda, weil die Proportionen der Räume, der Übergang von einem Raum in den nächsten für mich sehr interessant sind. Ich fand es großartig, wie die Abschlussklasse meiner Ballettschule im Herbst 2021 ihre Studien dort gezeigt hat. Es wirkte fast wie eine Installation.

Haben Sie auch schon Pläne, die weiter in die Zukunft reichen?

Ich bin sehr neugierig, weitere Räumlichkeiten in Baden-Baden für den Tanz zu erschließen. Ich habe zum Beispiel das Casino angeschaut und kann es mir gut vorstellen für die Aufführung eines Stücks mit absurdem Inhalt.

Wenn man demnächst ein Festivaljahr thematisch auf die Ballets Russes und Nijinsky konzentriert, wäre es sogar denkbar, parallel eine Ausstellung im Museum Frieder Burda mit Objekten meiner Sammlung und aus meiner Stiftung zu programmieren. Erste Gespräche in diese Richtung laufen bereits. Eine andere Idee wäre, eine Ausstellung zur Entwicklung der Tanz-Fotografie zu konzipieren: beginnend beim Übergang von der Lithografie zur Fotografie im 19. Jahrhundert – bis hin zu den verrücktesten aktuellen Experimenten, Ballett zu fotografieren.

Ein Mangel an Ideen ist also nicht zu befürchten. Welche Ballette stellen Sie in das Zentrum Ihrer ersten Festivalsaison?

Es ist wie ein Wunder, dass das Hamburg Ballett innerhalb der Pandemie-Zeit mit mir als Choreograf vier Kreationen geschaffen hat. Daher ist es mir wichtig, zwei dieser Werke dieses Jahr in Baden-Baden zu zeigen: „Beethoven-Projekt II“ und „Hamlet 21“. Das Festivalpublikum soll in den Genuss der Frische dieser Werke kommen.

Ich denke, dass die Musik von Beethoven, besonders seine siebte Sinfonie, genau das ist, was wir in der jetzigen Zeit brauchen. Sie hat einen besonderen Drive und strahlt unüberhörbar Optimismus und eine menschliche Freude aus, die ich als zukunftsweisend empfinde. Das ist aktuell eine ganz wichtige Botschaft an uns alle.

Zu den Gästen, die Sie für den Herbst eingeladen haben, zählt Diana Vishneva. Was verbindet Sie mit dieser berühmten Tänzerin?

Diana Vishneva war eine große klassische Ballerina am Mariinsky Theater, zugleich von Anfang an offen für neue Wege in der Choreografie, neue Wege auch für sich selbst als Künstlerin. In meinem ersten Gastengagement in St. Petersburg habe ich drei kürzere Ballette von mir kombiniert: „Spring and Fall“, „Now and Then“ und als neue Kreation „Sounds of Empty Pages“ – ein Werk, das ich Alfred Schnittke gewidmet habe. Diana war Teil dieser Kreation, aber ich war derart verliebt in sie, dass sie im Grunde genommen Hauptrollen in allen drei Balletten getanzt hat. Diana Vishneva schätzt aber nicht nur meine Choreografien. Ständig ist sie mit neuen Choreografen in Kontakt, im Dezember erst hat sie in Nürnberg mit Goyo Montero ein interessantes Projekt umgesetzt.

Dazu kommt ihre authentische Menschlichkeit. Mit großer Courage hat sie sich sehr schnell und entschieden gegen den Ukraine-Krieg ausgesprochen. Es scheint mir fraglich, ob sie nach Russland zurückgehen kann. Diana ist eine Künstlerin, die wirklich sehr populär ist, auch eine wichtige Position innerhalb des Mariinsky Balletts einnimmt. Dass sie sich so klar, frei und demokratisch zum russischen Angriffskrieg positioniert hat, verdient unser aller Respekt.

Aufgrund der turbulenten Zeiten und weil sie höchstwahrscheinlich nicht nach Russland einreisen kann, müssen wir ihr Programm vermutlich abändern. Aber ich tue alles, damit Diana Vishneva tatsächlich bei meiner ersten Festivalausgabe auftreten kann.

Auch der Auftritt des Bundesjugendballetts hat eine kulturpolitische Dimension: Mit dem Stück „Die Unsichtbaren“ geben Sie der Erinnerungskultur in Deutschland eine neue Richtung.

Ich hoffe es. Das Stück muss erst noch seine Form finden. Immerhin, es gab bereits eine technische Probe im Ernst Deutsch Theater. Schon lange vorher habe ich extrem viel Material gesammelt und daraus ein Konzept entwickelt. Mit den eigentlichen Tanz-Anteilen werde ich wohl nach Ostern beginnen, ab Anfang Mai stoßen die Schauspieler und Sänger dazu.

Tatsächlich geht es um politische Ereignisse der Vergangenheit, die total unmenschlich waren und die wenig bekannt sind: die erzwungene Emigration und die Ermordung von Tänzerinnen und Tänzern im Nationalsozialismus. Mein größtes Problem hat eine gute Freundin in den USA auf den Punkt gebracht: „Das Stück heißt ‚Die Unsichtbaren‘. Wie willst du sie sichtbar machen?“ Trotz aller Zweifel sehe ich genau das als meine Aufgabe – als gebürtiger Amerikaner, der in Deutschland schon in den frühen 1960er-Jahren als Künstler akzeptiert wurde und inzwischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft hat. Selbst wenn das Stück künstlerisch nicht optimal gelingen sollte, sehe ich darin eine Möglichkeit, die politische Aufmerksamkeit auf dieses drängende Thema zu lenken. Allein das wäre ein Erfolg.

Für Sie ist es wichtig, in Kontakt mit Ihrem Publikum zu sein. Sie bieten, gerade auch in Baden-Baden, regelmäßig Signierstunden an und machen jedes Jahr eine Ballett-Werkstatt, in der Sie erläutern, was Ihre Kunst ausmacht. Wird diese Herangehensweise auch Ihr neues Festival prägen?

Ich denke, dass die Ballett-Werkstatt ganz wichtig ist. Ich werde versuchen, jede Festivalsaison damit zu beginnen, um über die Gesamtpalette von Werken zu sprechen. Um Dinge, die eventuell wenig bekannt sind, kurz vorzustellen. Um die Generationsunterschiede zwischen den Tänzerinnen und Tänzern der verschiedenen Programme ins Bewusstsein zu heben.

Die Werkstatt in Baden-Baden geht mir sehr nahe. Das Format hat bei seiner Einführung vor vielen Jahren ganz bescheiden angefangen. Es kamen nur wenige Menschen, und ich hatte das Gefühl, die Veranstaltung dürfte nicht zu lang sein. Die emotionale Verbindung zum Publikum musste sich erst noch entwickeln. Inzwischen ist es völlig anders: Es ist immer sehr voll, ich lasse das Licht im Zuschauerraum an, denn ich möchte sofort mitbekommen, wenn jemand einschläft oder die Aufmerksamkeit nachlässt. Für mich ist es eine wirklich große Freude, diese Plattform zu nutzen, um neue oder ungewohnte Dinge vorzustellen, die ein Teil meines Festivals werden.