05.10.22

„Das Tanzen hilft uns allen“

Edvin Revazov im Gespräch mit Angela Reinhardt

Edvin Revazov ist einer der wichtigsten Ersten Solisten des Hamburg Ballett und hat zahlreiche Hauptrollen in John Neumeiers Werken kreiert. Der Tänzer wurde in Sewastopol auf der Krim geboren, er studierte in Moskau und Hamburg, seit einigen Jahren choreographiert er auch. Nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine stellte er spontan in Hamburg ein Projekt zusammen, bei dem geflüchtete Tänzer des Ukrainischen Nationalballetts gemeinsam mit Hamburger Kollegen tanzten. Seit April fanden mehrere Aufführungen in Hamburg und Lübeck statt. In Baden-Baden zeigt Revazov nun sein Stück „Requiem“, das er zu Musik von Henryk Górecki im April choreographierte, ergänzt durch ein Werk des moldawischen Choreographen Radu Poklitaru.

Am Tag unseres Interviews (12.9.22) kommen aus der Ukraine vorsichtig positive Meldungen. Spüren Sie Hoffnung?

Edvin Revazov: Eigentlich glaube ich, dass es immer Hoffnung gibt. Aber seit dem Beginn dieses schrecklichen Krieges gibt es keine guten Nachrichten mehr, alle verlieren dabei. Sogar mit guten Nachrichten bleibt es am Ende bei schrecklichen Nachrichten. Hoffnung gäbe es erst, wenn der Krieg endlich aufhört.

Tänzer aus der Ukraine und Russland waren eigentlich eng verbunden und tanzten ständig im Nachbarland. Auch nach der Auflösung der Sowjetunion war es eine große Ballettfamilie, man schaute nicht auf den Reisepass. Jetzt sollen Ukrainer und Russen plötzlich Feinde sein. Wie hart ist das für Sie und Ihre Kollegen?

Das war nicht nur bei den Tänzern so. Die russische und die ukrainische Kultur waren sich immer sehr nahe. Es war ein Schock für uns alle, dass es einen Krieg gibt, dass eine Nation die andere überfallen hat. Aber ich glaube nicht an eine Gruppenverantwortung. Mein Großvater war ein deutscher Soldat, der meine Großmutter in Estland getroffen hat. Es kommt auf den Menschen an, auf die Persönlichkeit! Die Nationalität gibt in keiner Weise vor, wer jemand wirklich ist. Am Ende des Tages sind wir Künstler, wir sind Weltbürger und möchten die Menschen miteinander verbinden, sie nicht vom Rest der Nationen ausschließen.

Die ukrainischen Tänzer im Hamburg Ballett und die Tänzer aus Kiew leben in ständiger Sorge um ihre Familien, Freunde und Kollegen zuhause. Können Sie diese Angst vergessen, wenn Sie gemeinsam tanzen, hilft das?

Natürlich haben wir extreme Angst um die Familien, vor den Raketenangriffen. Aber das Tanzen hilft uns allen! Es ist eine wunderbare Erfahrung mit diesem Projekt, das weiß ich aus Gesprächen mit den Tänzern und von den Aufführungen auf Kampnagel hier in Hamburg: Nach der Aufführung haben sie gelächelt oder sogar gestrahlt, wir haben über den Abend gesprochen, wie er gelaufen ist, wie das Publikum reagiert hat. Wenn man als Tänzer in einen Ballettsaal kommt, dann ist man zuhause. Dann weiß man, wo man hingehört und wie man miteinander umgeht.

Was hat Sie zu Ihrem „Requiem“ inspiriert?

Wenn mich vor allem die Situation in der Ukraine beeinflusst hat, so doch auch die anderen Kriege in der Welt, denn das ist ja nicht der einzige. Inspiriert haben mich vor allem die Tänzer, nicht nur die aus der Ukraine, sondern auch meine Kollegen vom Hamburg Ballett. Einige der ukrainischen Tänzer sprechen kein Englisch, und es war so schön zu sehen, wie die Hamburger ihnen geholfen haben, wie gut die Kommunikation funktioniert. Denn genau dafür gibt es die Kunst, damit wir uns verstehen! Direkt vor meinen Augen konnte ich sehen, wie Kunst Menschen verbindet, ganz egal welche Sprache sie sprechen und wie ihr Hintergrund ist.

Der Choreograph Radu Poklitaru stammt aus Moldau, er leitet das Kiyv Modern Ballet, eine moderne Kompanie in Kiew. Woher kannten Sie ihn, warum haben Sie ihn eingeladen?

Radu ist in der Ukraine und in Russland als Choreograph sehr bekannt, er hat auch schon fürs Bolschoi-Ballett in Moskau gearbeitet. Wir sind uns ein paar Mal begegnet, haben uns aber nie näher kennen gelernt. Bei den Aufführungen auf Kampnagel haben wir einen Pas de deux von ihm gezeigt, und da dachte ich, ein ganzes Ballett von ihm wäre sehr schön. John Neumeier hat uns sehr dabei unterstützt, er fand die Idee gut. Poklitarus „Nine Dates“ sind 2021 für seine eigene Kompanie entstanden, zu Préludes von Frédéric Chopin. Wir zeigen in Baden-Baden die Deutschlandpremiere.

Das Ukrainische Nationalballett tanzt in Kiew wieder – wie geht das, wenn manche Tänzer im Krieg kämpfen und andere nach Europa geflüchtet sind?

Einige Tänzer sind geblieben, und sie können auch auftreten. Aber sie können nur vor 300 Menschen im Theater auftreten – so viele, wie bei Alarm in den Luftschutzkeller passen. Radu Poklitarus Kompanie möchte auch gerade wieder auf die Bühne zurückkehren. Bei unserem Projekt gibt es Tänzer, die spontan nach Kiew zurückkehren, andere möchten bleiben, etwa weil sie ein kleines Kind haben. Es ist manchmal kompliziert, aber dafür muss man Verständnis haben, denn für jeden ist die Situation anders.