18.11.21

Das Scherzo rockt

Esa-Pekka Salonen über die heilende Kraft des Ausprobierens

Obwohl er als Dirigent weltweit gefragt ist, findet Esa-Pekka Salonen immer wieder die Ruhe zum Komponieren. Drei seiner Werke präsentiert das SWR Symphonieorchester beim Presence-Festival.

Die ersten Takte Ihres Bläserquintetts klingen sehr geheimnisvoll. Sie lassen die Instrumente buchstäblich im Klangnebel stochern, bis die Töne allmählich greifbar werden. Welche Idee steckt hinter dem Titel „Memoria“?

Mit Anfang zwanzig habe ich an diesem Stück geschrieben, es aber nicht vollendet. Dann habe ich es völlig vergessen, fand eines Tages den Entwurf wieder und beschloss, es zu Ende zu schreiben. Natürlich war ich nicht mehr derselbe Komponist. Mein Stil hat sich verändert, meine Technik hat sich entwickelt. Es ist so etwas wie der Blick eines älteren Komponisten auf sein jüngeres Ich, eine Erinnerung. Deswegen wählte ich den Titel.

Ihre Komposition „Gemini“ für großes Orchester ist dagegen wuchtig und brachial. „Gemini“, also „Zwillinge“, blickt in zwei Sätzen auf ein ungleiches Zwillingspaar der griechischen Mythologie: Castor und Pollux. So verschieden die beiden sind – gibt es so etwas wie eine musikalische „DNA“, die sie verbindet?

Als ich die Arbeit an dem Stück aufnahm, stellte ich zunächst musikalische Bausteine zusammen, auf die ich immer wieder zurückgreifen würde. Mir fiel dann auf, dass ich dieses Material in zwei verschiedene Richtungen bewegen konnte: Der eine Satz klingt ätherisch, langsam, verträumt, der andere dagegen ist laut, temporeich, und hat etwas Hyperaktives. Das ist es, was diese Zwillinge ausmacht: Sie haben dieselbe Mutter, aber verschiedene Väter. Castor ist der Sohn des Königs von Sparta, Pollux dagegen ist unsterblich, denn Zeus ist sein Vater. Der erschien Pollux’ Mutter übrigens als Schwan und es bleibt mir ein Rätsel, warum eine Frau mit einem Schwan ins Bett gehen sollte … Wie dem auch sei, das ist eben uralte Mythologie.

Als uralt – oder vielmehr: altmodisch, haben Sie einmal erwähnt – galt lange Zeit das Violinkonzert. Inzwischen haben Sie sich selbst an dieser Gattung ausprobiert. Erleben wir eine Renaissance?

In den 1950er- und 1960er-Jahren war die Avantgarde nicht an Violinkonzerten interessiert. Zu stark war das verklärt-romantische Image dieser Gattung. Aber: Mode und Geschmack verändern sich. Viele meiner Kollegen schreiben wieder Solokonzerte. Mich inspiriert der Gedanke, ein Individuum mit einem Kollektiv ins „Gespräch“ kommen zu lassen.

Im dritten Satz muss sich die Sologeige gegen ein Drumset behaupten. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?

Ich wollte, dass die vier Sätze völlig unterschiedlich klingen – so, als hätte die Solovioline vier Persönlichkeiten. Ein Drumset klingt sehr rhythmisch, laut und ausgelassen – wie ein „Scherzo“ im traditionellen Sinne. Man kann rasante, komplexe Rhythmen erzeugen. Ich nutze es genauso, wie man es auch in der Rockmusik einsetzt. In meinem Violinkonzert ist das ein spannender, starker Kontrast.

Wie haben Sie das letzte Jahr erlebt?

Als Komponist dürften Sie „social distancing“ gewohnt sein. Das ist insofern eigenartig, als es zum Beispiel für die Entstehung eines Popsongs gleich ein ganzes Team braucht. Klassische Musik ist das einzige Genre, in dem sich ein Komponist allein in sein Studio verziehen und erst dann herauskommen kann, wenn die Partitur fertig ist. Zuerst dachte ich, das ist ein Geschenk des Himmels: Ich habe Zeit zum Komponieren. Dann merkte ich, dass es sehr schwierig war. Für eine Weile hatte ich meine Motivation verloren, dann aber habe ich mich immer wieder an neuen Sachen ausprobiert und meinen ersten Soundtrack für einen Spielfilm geschrieben. Das hat mir geholfen.