Dada, Tut-Tut und weitere Wunder
Enescus Meisteroktett trifft auf Kurt Schwitters Dadaismus und Patricia Kopatchinskaja
Wunderkinder, Wundermenschen, wundersame Gestalten prägen das Konzert um die Wundergeigerin Patricia Kopatchinskaja am Pfingstmontag im Festspielhaus. Beim Abschlusskonzert der Presence-Pfingstfestspiele am 6. Juni, 16 Uhr, stehen sich zwei Welten gegenüber: ein klassisches Streichoktett des rumänischen Komponisten Georges Enescu und die Ursonate des dadaistischen Künstlers Kurt Schwitters. Mit der Ausnahmekünstlerin Patricia Kopatchinskaja spielen Musiker des SWR Orchesters.
Fast ein achtes Weltwunder: das Meisteroktett eines Neunzehnjährigen
Zuerst ein Oktett, das dem Hörer die Sprache verschlägt und von den Streichern alles abfordert. Geschrieben hat es 1900 der erst 19jährige rumänische Komponist Georges Enescu - also gerade noch im Wunderkindalter. Das Stück ist musikalisch eine echte Meisterarbeit, stilistisch am ehesten vergleichbar mit Schönbergs Streichsextett „Verklärte Nacht“. Wie Schönberg konzipierte auch Enescu sein Oktett nach dem Vorbild der h-Moll-Sonate von Franz Liszt: die vier Sätze gehen ineinander über und verarbeiten ein eng begrenztes musikalisches Material, das größtenteils bereits im ersten Satz vorgestellt wird. Wobei ‚eng begrenzt‘ auf eine falsche Spur führt. Die Melodielinien Enescus sind in Gegenteil sehr ausufernd – das trifft auch auf die unendlich langen, sehr sinnlichen Kanons zu, in denen der Komponist rumänische Volksmelodien mit barocken Techniken verbindet. Das Oktett ist ein Wunder an polyphonen Verflechtungen und motivischer Kombinatorik, dabei voller herrlicher Melodien und dramatischen Zuspitzungen. Es stammt von einem Mann, der aktuell als Komponist wiederentdeckt wird, nachdem er vor allem als Starviolinist und -dirigent und Geigenlehrer von Ida Haendel und Yehudi Menuhin genannt wurde.
Schwitters Ursonate: Ein Film wird gesprengt
Nach dem sehr klassischen Oktett folgt ein Film, in dem Patricia Kopatchinskaja und die Musiker Reto Bieri, Annekatrin Klein und Anthony Romaniuk Kurt Schwitters Lautgedicht „Ursonate“ inszenieren. 1932 nach neun Jahren Arbeit vollendet, gelang Schwitters ein Schlüsselwerk des Dadaismus, dessen Nonsens alle bürgerlichen Kunsttugenden hinterfragt.
Schwitters trug seine Kreation, dessen Material er in Form einer klassischen Sonate mit vier Sätzen arrangierte, mit großem Erfolg vor und überlieferte sie als visuelle Partitur. Darüber hinaus arbeitete er bis an sein Lebensende an dem Versuch, eine passende musikalische „Harmonisierung“ für das für ihn zentrale Werk zu finden. Die Abwesenheit einer definitiven Form der Lautsonate bestimmt sie als ein work in progress, das zwischen Tradition und Avantgarde osziliert.
Enescus Konstruktion trifft an dem Abend im Festspielhaus also auf Schwitters Dekonstruktion. Und Patricia Kopatchinskaja erweitert das Konzept noch weiter! Zwischen den Sätzen der Ursonate musiziert live mit Musikern des SWR Orchesters Eigenkompositionen und Werke von Ravel, Milhaud, C.P.E. Bach, Cage und Ligeti – vom letzteren erklingt das Prélude für Autohupen aus der Oper „Le Grand Macabre“.
Die Sprengmeister
Die moldauisch-österreichisch-schweizerische Geigerin und Komponistin Patricia Kopatchinskaja hält unter ihren Kollegen eine absolute Ausnahmestellung inne. Sie inspiriert Komponisten zu Violinkonzerten und geht auch bei vielgespielten Werken neue Wege. Zuletzt riss sie im Festspielhaus das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin – ausgerechnet mit Schönbergs Violinkonzert! Im aktuellen Konzert tritt sie mit Musikern aus dem SWR Orchester auf: Emily Körner, Hwa-Won Rimmer und Soo Eun (Violine), Paul Pesthy, Raphael Sachs (Viola) Frank-Michael Guthmann, Markus Tillier (Violoncello), Sebastian Manz (Klarinette) und Jochen Schorer (Perkussion).