15.03.21

Brahms und der „Walzerkönig“

Konzertwochenende mit Hengelbrock im Herbst

Es ist eine merkwürdige Wahlverwandtschaft: Der musikalisch so ernsthafte Hanseat Johannes Brahms schätzte den Wiener Johann Strauß. Die Bewunderung beruhte auf Gegenseitigkeit. Der „Walzerkönig“, der durch die Musikzentren Europas tourte – Baden-Baden durfte da natürlich nicht fehlen, woran eine Tafel am Konzertpavillon im Kurpark erinnert – und in den USA seine Werke vor eigens zusammengestellten Mammutorchestern und –chören dirigierte, schrieb 1891 an einen Verleger: „Johannes Brahms muss mit einer Dedication, einem Walzer meiner Composition bedacht werden. Ich will diesen Walzer populär, aber dennoch gewürzt und gepfeffert halten“. Am Samstag, den 31. Oktober um 16 Uhr und am Sonntag, den 1. November um 11 Uhr führt Thomas Hengelbrock den Brahms gewidmeten Walzer mit dem Balthasar-Neumann-Ensemble auf, in einem Programm mit der Sopranistin Katharina Konradi, die Arien aus den Strauß-Operetten „Wiener Blut“ und „Die Tänzerin Fanny Elßler“ singt. Am Schluss steht Brahms´ dritte Sinfonie. Dass Strauß „Seid umschlungen, Millionen“ als Titel für den Walzer wählte, ist nicht ohne Ironie. Brahms litt zeitlebens an dem übermächtigen Schatten Beethovens. Wenn nun Strauß ein Zitat aus Schillers Ode „An die Freude“ durch den ihm zugedachten Walzer dreht, mag Brahms das durchaus als freundschaftlichen Hinweis verstanden haben: „Vergiss doch mal Beethoven und die Neunte - schau her, es geht auch leicht!“

Brahms selbst machte es sich nirgends leicht, er studierte die Alten Meister und versuchte akribisch, der Bürde dieses Erbes gerecht zu werden. Und doch gelang ihm dabei so mancher Durchbruch zu einer Modernität, die noch ein Neuerer wie Arnold Schönberg an ihm bewunderte. Am Freitag, 30. Oktober und am Samstag, 31. Oktober 2020 dirigiert Hengelbrock das „Deutsche Requiem“ mit dem Balthasar-Neumann-Chor und dem Balthasar-Neumann-Orchester. Solisten sind Katharina Konradi und Matthias Goerne. Brahms schuf in dem groß besetzten Werk eine protestantisch-musikalische Emanzipationserklärung: Mit selbst ausgewählten Bibeltexten fand er einen Weg fort vom Ritual, hin zu einem „mündigen“ Trauern und Trösten.

Das Neue im Alten zu suchen: Dafür hat Thomas Hengelbrock ein feines Gespür, was ihn zu einem der interessantesten Brahms-Dirigenten macht. Als bedeutender Vertreter historisch informierter Aufführungspraxis stellt er seit Jahrzehnten Gewohnheiten des Hörens in Frage, um zur Gerechtigkeit gegenüber dem Werk zu finden. Die Wahl historisch angemessener Instrumente und das kritische Studium der Partituren sind dabei das Mindeste. Hengelbrock ist es genauso wichtig, Bezüge herzustellen und die Gleichzeitigkeit des Ungleichen zu zeigen. Oder eben auch die Ungleichheit zu verdeutlichen, die es verbietet, Werke über einen Kamm zu scheren, bloß weil sie aus derselben Epoche stammen.

Interviews mit Thomas Hengelbrock sind rar. Dafür sind seine Konzerte umso eloquenter. Der Abend mit Werken von Brahms und Johann Strauß erzählt viel über die Sehnsüchte der Komponisten in ihrer Zeit: über Brahms´ Sehnsucht nach der Melodie und Strauß´ Sehnsucht nach Anerkennung durch „ernsthafte“ Komponisten und Kritiker. Er erzählt von der Inspiration, die beide Komponisten aus dem „Volkstümlichen“ zogen. Und vom handwerklichen Geschick, mit dem sie es in ihre Genres der Kunstmusik übersetzten. Obendrein erzählt er eine Baden-Badener Geschichte, denn beide Komponisten waren oft und gern hier: Brahms, weil er die Nähe zu Clara Schumann und die Einsamkeit des Schwarzwalds suchte. Strauß, weil er die Wertschätzung der feinen Gesellschaft aus Bourgeoisie, Künstlern und Adligen genoss, die Jahr für Jahr hierher pilgerte.

Stand: 15.03.2021