09.03.24

Blick zurück nach vorn

Der moderne Traditionalist Thierry Malandain und sein Ballett

Aus trauriger Nacht zum strahlenden Jubel, diesen Weg geht Thierry Malandain mit seinem Ballet Biarritz in zwei ganz unterschiedlichen Tanzstücken zu großer, bekannter Musik. Frédéric Chopins melancholisch glitzernde Nocturnes gehören zur Lieblingsmusik der Choreografen, sie erklingen von „Les Sylphides“ bis zur „Kameliendame“ in den berühmtesten Werken des Balletts. Thierry Malandain versteht die Klavierstücke nicht nur als elegante Nachtmusik, sondern sieht in ihnen eine Verbindung zur schwarzen Romantik. Getanzt wird auf einer Lichtbahn im Dunkel, in einfacher Kleidung und gedeckten Farben. Man mag in der Prozession kurze Szenen erkennen, Klage und Schmerz, vor allem aber herrscht auf diesem schmalen Streifen des Lebensweges eine leise akzeptierende Melancholie. Mit den Worten des Dichters Charles Baudelaire versteht Malandain sein Ballett als „den Schatten eines schwarzen Tages, trauriger als die Nächte“.

Der französische Choreograf, der über sich selbst sagt, er sei „eher ein Fossil als ein Vorreiter“, tanzte nach seiner klassischen Ausbildung zunächst im Herzen des französischen Balletts, an der Pariser Oper. Bald aber folgte er den Choreografen, die er für innovativer hielt, ging zum Ballet du Rhin und zum Ballet Théâtre Français in Nancy. Dort begann er zu choreografieren und gewann mit seinen ersten Stücken sofort Preise. Fast immer entwarf er sie zu moderner Musik. 1986 gründete er seine erste Compagnie mit Namen Temps Present in einem Vorort von Paris. Er gehörte zur Welle der jungen französischen Choreografen, die in dieser Zeit nach oben stürmten, war aber mit seiner Liebe zur Neoklassik die Ausnahme unter den Konzeptkünstlern und Zertrümmerern. 1997 bot ihm das Kultusministerium an, im südfranzösischen Biarritz ein Tanzzentrum zu etablieren, das erste eher klassisch orientierte Centre Chorégraphique Frankreichs – die Ästhetik dieser Tanzhäuser ist ansonsten rein zeitgenössisch geprägt. Malandain zog mit seiner Compagnie in einen alten Bahnhof, kreiert seitdem große Abendfüller mit oder ohne Handlung und erweiterte sein Ensemble im Lauf der Zeit auf 22 Tänzer. Bald gastierten sie weltweit, Malandain wurde international eingeladen und leitete zwischenzeitlich das Festival Temps d’Aimer in Biarritz. Seit 2009 trägt das Ballet Biarritz den Namen seines Choreografen im Titel.

„La Pastorale“ entstand 2019 als Auftragswerk des Opernhauses in Ludwig van Beethovens Geburtsstadt Bonn, der Anlass war das Beethoven-Jahr 2020. Malandain liebt den Komponisten und hatte bereits diverse Werke zu dessen Musik choreografiert. Aus der sechsten Sinfonie, der „Pastorale“, der Beethoven neben dem Beinamen den Zusatz „Erinnerungen an das Landleben“ mitgab, macht der Choreograf eine Art Dreischritt: Er stellt ihr Ausschnitte des Festspiels „Die Ruinen von Athen“ voran (die Ouvertüre sowie ausgewählte Chöre und Arien), nach der Sinfonie folgt die kurze Kantate „Meeresstille und glückliche Fahrt“ zu zwei Gedichten von Goethe.

Ein Metallgitter aus quadratischen „Zellen“, so hoch wie Ballettstangen, hält die Tänzer gefangen. Zwar hindert es an weiten Bewegungen, eröffnet aber auch neue Möglichkeiten, denn die Tänzer drehen, balancieren oder hängen kopfüber an den Stangen. Die Fünf-auf-Fünf-Anordnung der Metallstruktur erinnert laut Malandain an das sogenannte Sator-Quadrat, ein in vier Richtungen stets identisch zu lesendes, rätselhaftes Palindrom aus den lateinischen Worten Sator Arepo Tenet Opera Rotas. Ein einzelner, schmaler Mann entpuppt sich nach und nach als der (Anti-)Held des Stückes. Wenn er in gebückter Haltung und in sich gekehrt um das Quadrat rennt, dann könnte man ihn wohl für den verzweifelten, ertaubenden Beethoven halten, der sich, gehalten und geplagt von dunklen Engelsgestalten, alsbald in sein eigenes Arkadien träumt, an einen Ort der apollinischen Klarheit und Schönheit.

Denn irgendwann hebt sich das Metallgerüst und zur „Pastorale“, dem selig lächelnden Gegenstück zur gleichzeitig entstandenen, schicksalshaften fünften Sinfonie, wird alles hell und weit. Die schwarzen Mäntel weichen stilisierten Hirtenhemden. Nicht nur in den Kostümen ist jede sexuelle Differenzierung aufgehoben, auch choreografisch werden Männer und Frauen fast immer gleichbehandelt – es geht um die Gemeinschaft, nicht um das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Die Geometrie, die das metallene Schachbrett vorgab, finden wir an diesem leuchtend hellen Sehnsuchtsort nun in der Choreografie, in den geraden Linien, Kreisen und Quadraten, in Symmetrien und Spiegelungen. Es ist ein „Ballet blanc“ ganz anderer Machart, in dem Malandain immer wieder Posen aus griechischen Friesen und Reliefs zitiert: das erhabene, in sich ruhende Schreiten, die aneinandergelegten Hände oder Menschen, die Amphoren tragen zu scheinen. Ganz fein schimmern auch Anspielungen aus der Tanzgeschichte auf, als Choreografen sich an die Antike erinnerten: die Reigen von Isadora Duncan oder die Menschenreihen aus „Choreartium“ von Leonid Massine, das Gehen im Profil aus Vaslaw Nijinskys „Faun“ und die drei Musen aus George Balanchines „Apollo“, die sich um den Helden bemühen.

Malandain feiert die Harmonie der Gemeinschaft und das zivilisierte Miteinander, das Streben nach Frieden und die Schönheit des menschlichen Körpers. Nach jedem Satz der Sinfonie liegt der einsame Held wieder am Boden, zum Schluss kehrt er aus seinem Traum vom Paradies in die Realität zurück – nur um dann vollkommen in der Gemeinschaft aufzugehen. Den großen, unverstellten Menschheitsjubel am Ende kennt man sonst nur von Maurice Béjart oder John Neumeier, er mag in Zeiten wie diesen anachronistisch wirken – aber genau wie Beethovens Musik wirkt er ungemein tröstlich.

Angela Reinhardt