15.03.21

Auf einen Kaffee mit Tschaikowsky

Der Einfluss der Kaffeehauskultur auf Tschaikowskys Schaffen

Es muss eine filmreife Szene gewesen sein von hoher Angespanntheit bei einem Minimum an Handlung: Ein Bahnhof, irgendwo in Europa, zwei Züge an gegenüberliegenden Bahnsteigen, der Komponist Tschaikowsky in dem einen, seine langjährige Mäzenin Nadjeshka von Meck in dem anderen. Aus dem Fenster winkte man einander zu. Um die wechselseitige Verklärung nicht durch Allzumenschliches zu trüben, beschlossen beide früh, einander niemals in Natura zu treffen. Der Witz dabei: Beide reisten oft und gerne, bevorzugt in dieselben Städte – und verständigten sich dann über ihre Eindrücke brieflich. Solch spezielle Romantik wurde durch den Ausbau der Eisenbahn ermöglicht, die zur Entwicklung von Kurorten führte und damit zum Phänomen „Der Künstler als Kurgast“. Wenige kurten so oft und intensiv wie Tschaikowsky, auch dank der finanziellen Zuwendungen seiner Gönnerin. Vielen gilt er als urrussischer Komponist. Doch war seine Musik von neapolitanischer Volksmusik fast so stark geprägt, wie von französischen Komponisten und Mozart. Tschaikowskys Kunst ist russisch und kosmopolitisch zugleich. Modern dazu: Vieles ist von der öffentlichen Kaffeehauskultur geprägt, die sich zum Kurort parallel etablierte. In deutschen Kaffeehäusern las der Komponist russische Zeitungen und hörte Musik von Strauss, die ihn so nachhaltig beeindruckte, dass er zum bedeutendsten Walzerkomponisten des neunzehnten Jahrhunderts aufrückte. Und wer bei „Kaffeehaus“ die Nase rümpft: Der ganze französische Impressionismus verdankt ihm viel. Das späte neunzehnte Jahrhundert war Großstadtkultur, die von Natur sprach und Stadtgärten meinte. Parkflaneur Tschaikowsky hatte genug Muße, in sein Innerstes hineinzuhorchen und seine Stimmungsschwankungen zum Objekt von Musik zu erheben. Russische Volksmelodien, historische Stoffe? Alles Ablenkung. Selbst für den „Mazeppa“-Stoff entflammte der Komponist nur, weil er sich in dessen unglückliche Heldin so gut einfühlte – deren Seelenleben der Dichter Pushkin nach dem Vorbild englischen Romantikerinnen anlegte, so wie auch schon bei Tatjana aus „Eugen Onegin“. Die romantische Russin ist in Wirklichkeit ein britisches Fräulein, wer hätte das gedacht? Gefühle kennen keine Landesgrenzen. Kurgäste sind eine internationale Spezies mit Heimat im Hotel, im Fall von Tschaikowsky: auch eine schüchterne. Als der Dichter Turgenjew einmal erfuhr, dass er mit seinem berühmten Landmann im selben Zug reiste, hatte sich Tschaikowsky „wie ein Verbrecher“ in der dritten Klasse versteckt. So fuhr Turgenjew weiter, vielleicht nach Baden-Baden, wo man eine Villa für ihn baute. Tschaikowsky selbst war niemals an der Oos. Dafür wird hier seine Musik geliebt und gefeiert: Jahr für Jahr mit seinen Balletten und nun auch von den Berliner Philharmonikern, die ihm ihre Osterfestspiele 2021 in Baden-Baden widmen.

Stand: 15.03.2021