19.10.21

Andenken und Warnung

John Neumeier erinnert an Opfer des Nationalsozialismus aus der Welt des Tanzes

Vielleicht gab ein Wandgemälde den Anstoß. Wenn John Neumeier über sein Projekt „Die Unsichtbaren“ spricht, hat er immer „Orpheus mit den Tieren“ der Hamburger Künstlerin Anita Clara Rée von 1931 vor Augen.

Das Bild schmückte einst den Gymnastikraum der Mädchenschule Hamburg-Hamm. Heute ist hier das Fokine-Studio des Hamburg Ballett eingerichtet, in dem John Neumeier regelmäßig neue Kreationen entwickelt. Erst in den 1980er-Jahren wurde das Bild hinter einer Bretterwand entdeckt und freigelegt. Seine Malerin, Anita Clara Rée, wurde 1933 aus der Hamburger Künstlerschaft als „artfremdes Mitglied“ entfernt und beging kurz vor Weihnachten desselben Jahres auf Sylt Selbstmord. Der Antisemitismus der Nationalsozialisten war ihr zum Verhängnis geworden. Ihre Bilder wurden zerstört oder – wie „Orpheus mit den Tieren“ – hinter Brettern vernagelt.

John Neumeier hat sich immer wieder mit den Opfern des Nationalsozialismus auseinandergesetzt – auch, weil er in den 1960er-Jahren Deutschland als Ausländer sehr gastfreundlich kennengelernt hatte und sich das Grauen, das keine 30 Jahre zuvor stattgefunden hatte, damals nicht vorstellen konnte. Heute ist es ihm ein Anliegen, insbesondere an Tänzer und Choreographen der 1920er und 1930er-Jahre zu erinnern, die Opfer des Nationalsozialismus wurden, gerade weil sie selten im großen Rampenlicht standen wie die Kollegen des Schlagers oder des Kinos. „Der ‚Ausdruckstanz‘ oder der ‚deutsche Tanz‘ stand in dieser Zeit weltweit für den größten Fortschritt in der Tanzgeschichte“, blickt Neumeier auf diese Kunstform in den Jahren der Weimarer Republik. Kurzzeitig hielten sogar die Nationalsozialisten große Stücke auf diese Form der Modernität, doch das rettete vielen Künstlerinnen und Künstlern nicht das Leben.

Während die Geschichten Überlebender wie des „Tanzschrift- Erfinders“ Rudolf von Laban oder der Choreographin Mary Wigman bereits erzählt wurden, warten tausende von Tänzer- und Choreographinnen-Geschichten auf ein würdiges Andenken. „Bereits in den ersten Monaten der Arbeit konnten wir weit mehr als 300 Namen von Tänzern und Choreographen ermitteln“, berichtet John Neumeier von der Erinnerungsarbeit, die er zusammen mit den Mitgliedern des Bundesjugendballetts begonnen hat und gerade auch mit jungen Menschen weiter diskutieren möchte.

Dabei bleibt es dem Künstler John Neumeier wichtig, dass das Projekt „Die Unsichtbaren“ ein künstlerisches bleibt – keine dokumentarische Darstellung. „Es muss wissenschaftlich vorbereitet sein, aber es wird ein emotionales Echo werden, ein Andenken und eine Warnung.“