17.04.25

Alles nur geklaut?

Wie aus Übertragung Neues entsteht

„Es kann der Mensch nicht schaffen, nur verarbeiten, was er auf seiner Erde vorfindet.“ Mit diesen Worten rechtfertigte der deutsch-italienische Pianist, Komponist und Dirigent Ferruccio Busoni (1866-1924) einmal seine Klavierbearbeitungen der Werke Johann Sebastian Bachs. Selbst vermeintliche Originalkompositionen, so seine Argumentation, seien bereits Transkriptionen abstrakter Einfälle, sobald man sie in einer bestimmten Takt- und Tonart aufschreibe. Und von dieser ersten Übertragung zur zweiten, der Bearbeitung im gewohnten Sinn, sei es nur ein kleiner, unbedeutender Schritt. Zum Thema der Verarbeitung von Vorgefundenem bietet das heutige Programm drei ganz unterschiedliche Beispiele. 

Der komplizierteste Fall steht am Anfang: Johannes Brahms schrieb seine Klaviervariationen op. 9 im Jahr 1854 als Hommage an Robert Schumann und seine Frau Clara. Das Thema stammt aus dem ersten Albumblatt von Roberts „Bunten Blättern“ op. 99. Clara hatte über dieselbe klagende Melodie 1853 ihre Variationen op. 20 komponiert. Außerdem verknüpfte Brahms in der neunten der 16 Variationen das Thema des zweiten Albumblatts aus den „Bunten Blättern“ kunstvoll mit dem Variationenthema. Und am Ende der zehnten Variation zitiert er den Themenbeginn von Claras (Robert gewidmeter) „Romance variée“ op. 3. Über dieses Thema hatte auch Robert ein Variationenwerk geschrieben, nämlich seine Impromptus op. 5. Forscher haben noch viele weitere Zitate und Anspielungen in Brahms’ Komposition entdeckt – sie ist durchzogen von einem Geflecht aus musikalischen Beziehungen. Verwirrend? Es geht noch weiter: Der Gegenwartskomponist Detlev Glanert hat Brahms’ Klaviervariationen für ein Oktett aus fünf Streichinstrumenten, Klarinette, Fagott und Horn arrangiert – mit der einleuchtenden Begründung, das „Original“ enthalte ohnehin kaum typische Klavierfigurationen, dafür aber manche Züge, die über den Klavierklang hinauswiesen: etwa eine gesteigerte Farbigkeit oder angedeutete kontrapunktische Nebenstimmen, die für zwei Pianistenhände gar nicht komplett umsetzbar seien. Eine andere Art von Übertragung liegt in der folgenden Eigenkomposition Glanerts vor, seinem zweiten Violinkonzert, das er 2019 für Midori schrieb. Es trägt den Titel „An die Unsterbliche Geliebte“ und verweist damit auf einen berühmten Brief Ludwig van Beethovens, der mit den Worten „Mein Engel, mein alles, mein Ich“ beginnt. Generationen von Musikforschern und -liebhabern haben sich den Kopf zerbrochen, wer wohl die Adressatin dieser (nie abgeschickten) Zeilen sein sollte. Glanert allerdings interessierte die Identität der Geliebten gar nicht so sehr. Ihm ging es eher um Beethovens Art zu schreiben: „Er benutzt Worte wie musikalische Motive, indem sie Durchführungen, Steigerungen, Reprisen bilden.“ Motive wie beispielsweise die Postkutsche, das Wetter, die Zukunft oder das „Du“ werden wie die Themen eines Orchesterwerks miteinander kombiniert und kontrapunktisch gegeneinandergesetzt. „Das brachte mich auf die Idee, den Brief als imaginäre Partitur eines meiner eigenen Stücke zulesen“, erklärte Glanert dazu. Die drei Sätze seines Werks entsprechen denen eines traditionellen Violinkonzerts, sie folgen in den Satzüberschriften zugleich der Gliederung des Briefs. Das Soloinstrument steht in dem Konzert für das Individuum – das kann je nach Kontext entweder Beethoven oder die Geliebte sein. „Das Individuum aber ist eingebettet in ‚Umstände‘ (Beethoven würde es ‚Schicksal‘ nennen)“, so Detlev Glanert. Zum Schluss eine weitere Brahms-Übertragung: Arnold Schönberg schuf sein Orchesterarrangement des Klavierquartetts op. 25 im Jahr 1937. Und er erklärte auch gleich, warum: „1. Ich liebe dieses Stück. 2. Es wird selten gespielt. 3. Es wird immer schlecht gespielt, denn je besser der Pianist, desto lauter spielt er, und man hört nichts von den Streichern. Ich wollte einmal alles hören, und das ist mir gelungen.“ Schon Brahms hatte 1855 beim Komponieren Vorgefundenes genutzt – zwar keine konkreten Melodien, aber einen traditionellen Stil: Das Intermezzo ist bereits leicht ungarisch gefärbt, noch wesentlich deutlicher dann das Rondo mit dem Attribut „alla zingarese“. Die Wirkung dieses Finalsatzes wollte übrigens ein Rezensent der Erstausgabe durch „Triangel und Tambourin etc.“ noch erhöhen. Schönberg setzte diesen scherzhaft gemeinten Vorschlag in die Tat um und fügte noch ein ganzes Arsenal weiterer Schlaginstrumente hinzu. „Es kann der Mensch nicht schaffen, nur verarbeiten“ – Busonis Bonmot möchte man zwar zustimmen, doch manche Komponisten investieren eben doch ein hohes Maß an Kreativität in ihre Bearbeitungen. Die Übertragung auf ein anderes Medium klingt dann überraschend frisch und neu.

Autor: Jürgen Ostmann