14.10.22

„Ah! L’amor!“ und „Alleluja“

Thomas Hengelbrock auf der Suche nach der originalen „Cavalleria Rusticana“

Anmerkungen zu unserer Aufführung von Pietro Mascagnis „Cavalleria rusticana“ im Festspielhaus Baden-Baden:

Im Jahr 1888 reichte der junge Komponist Pietro Mascagni eine sauber geschriebene Partitur beim Verleger Sonzogna in Mailand ein. Dieser hatte einen Wettbewerb für einaktige Opern ausgeschrieben, und Mascagni, zu dieser Zeit ein vollkommen unbekannter Musiklehrer und Leiter des städtischen Orchesters in Cerignola (Apulien), hatte sich mit seiner dritten Oper „Cavalleria Rusticana“ beworben.

Die Jury in Rom brauchte ein ganzes Jahr, um die 73 eingereichten Opern zu begutachten. In einer Art Zwischenrunde durfte Mascagni sein neues Werk den Musikprofessoren in Rom am Klavier präsentieren. Die Aufnahme war sehr gut, nur wurde ihm gutmeinend («im Namen der Freundschaft», wie sich ein Kollege ausdrückte) geraten, das Werk doch zu kürzen. Dann, immerhin, könne er mit einem Preis rechnen. Im April 1890 begannen die Proben für die drei Opern, die es ins Finale des Wettbewerbs geschafft hatten; neben Mascagnis Cavalleria» noch „Labilia“ von Nicola Spinelli und „Rudello“ von Vincenzo Ferroni. Die Proben wurden vom Dirigenten Leopold Mugnone geleitet. Auch er empfahl Mascagni, das Werk zu kürzen; die Sängerin der Santuzza, Gemma Bellincioni und der Tenor Roberto Stagno wünschten sich Transpositionen nach unten, und zu allem Überfluss zeigte sich der Chor den immensen Anforderungen seiner Partie nicht gewachsen. Obwohl Mascagni die letzten Chorproben selbst leitete, blieb der Chor die Schwachstelle in einer ansonsten über allen Maßen bejubelten Premiere.

Der Verleger Sonzogna veröffentlichte nach der Premiere die heute üblicherweise weltweit gespielte Fassung der Partitur, mit allen Transpositionen und Kürzungen, die zum größten Teil die Chorpartie betreffen. Leider wird damit nicht nur die tonartliche Gesamtdisposition der Oper gestört, sondern es entfallen auch viele der schwierigsten, in ihrer kontrapunktischen Verzahnung und chromatischen Verdichtung aber sehr reizvollen Chorpartien.

Mascagni selbst hat in seinen beiden Aufnahmen – ein halbes Jahrhundert nach Niederschrift der Partitur – die heute bekannte Fassung quasi sanktioniert – und sich offenbar mit den schlechten Probenbedingungen und der unzureichenden Qualität der Opernchöre abgefunden.

Wir aber finden es lohnend, die ursprünglich vom Komponisten intendierte Fassung einmal aufzuführen. Die nun höher liegende Partie der Santuzza kann von einem echten Sopran gesungen werden, die Auftrittsarie des Alfio wird durch die ausgedehnt- virtuose Chorpartie zu einem kompositorischen Schmuckstück; die nun um einen Ganzton höher liegende berühmte Kirchenszene entfaltet sich ungekürzt in organischer Proportion und kann jetzt in A-Dur (statt in G-Dur) wirklich in himmlischem Glanz erstrahlen. Und Santuzza darf wieder ihr „Ah! L’amor!“ dem „Alleluja“ des Chores entgegenschleudern.

Und gar der Brindisi: Im großen Trinklied kurz vor Ende der Oper hat Mascagni dem Chor 89 Takte (von 203) gestrichen! Höchst anspruchsvoll und virtuos verschränken sich da die Stimmen und schaukeln sich auf zum wirklichen Bacchanal, ein Tanz auf dem Vulkan, dem umso bestürzender dann das tragische Ende folgt.

Wir stellen für unsere Aufführungen in Baden-Baden eine provisorische Ausgabe her; im nächsten Jahr wird der Musikologe Andreas Giger für den Bärenreiter-Verlag eine neue Ausgabe herausbringen, die erstmals alle verfügbaren Quellen sowie unsere praktischen Erfahrungen berücksichtigt.

Thomas Hengelbrock
Paris, 12.10.2022